DOMRADIO.DE: Wie unterscheidet sich das Priesterbild im 19. Jahrhundert von dem, was wir heute kennen?
Prof. Dr. Klaus Unterburger (Lehrstuhl für mittlere und neue Kirchengeschichte an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg): Ab dem Mittelalter ist es immer wichtiger geworden, dass die Priester gute Seelsorger sind. Das Ideal des guten Hirten war ganz wichtig, und es überlagert dasjenige, was vorher das Entscheidende gewesen ist, nämlich mit reinen Händen den Kult, den Ritus, das eucharistische Opfer darzubringen. Das ist nicht weg, aber die Seelsorge wird immer wichtiger.
Im 19. Jahrhundert kommt dann noch ganz viel hinzu. Zum einen eine Gesellschaft, die in Teilen kirchenfeindlich ist, wo man sich abgrenzen möchte. Zum anderen eine Reform der Priesterausbildung, die dafür sorgt, dass die Priester akademisch gebildet sind, gewisse akademische Standards erfüllen.
Das führt dazu, dass die Priester hohes Ansehen genießen, vor allem natürlich bei ihren Gläubigen, aber auch häufig außerhalb der Kirche. Es sind akademisch gebildete Priester, die ganz für ihre Gemeinde da sind, die gute Seelsorger sind, die am Krankenbett, am Sterbebett bei den Sterbenden wachen, die sich um das Seelenheil ihrer ganzen Gemeinde verantwortlich fühlen und die gleichzeitig eben ein Ideal zu leben versuchen, dass die normalen Christen eigentlich nicht erreichen und deshalb ein hohes Prestige im katholischen Kirchenvolk haben.
Es ist also ein Ideal, was auf der einen Seite bei den katholischen Gläubigen für Verehrung sorgt, aber auf der anderen Seite auch fragil ist. Ein schwer lebbares Ideal, was nicht jedem gelingt, bei dem natürlich auch das Scheitern möglich ist.
DOMRADIO.DE: Sie haben angesprochen, dass sich die Gesellschaft schon im 19. Jahrhundert kirchenkritisch entwickelt hat. Gleichzeitig stammen aus dieser Zeit viele berühmte Kathedralen und auch erfolgreiche Orden. Wie geht das zusammen?
Unterburger: Das sind zwei Aspekte, die sich nicht unbedingt ausschließen. Auf der einen Seite kann man sagen, dass sich seit der Zeit der Aufklärung und dann im 19. Jahrhundert der Liberalismus in nahezu allen katholischen Gesellschaften verbreitet hat, im evangelischen Bereich genau so. Kirchenkritische Strömungen haben den Einfluss der Kirche zurückgedrängt. Stichwort Antiklerikalismus und so weiter.
Es gibt aber gleichzeitig so etwas wie eine Selbst-Modernisierung und Erneuerung der Kirche. Es werden neue Ordensgemeinschaften gegründet, Kirchen werden gebaut. Auch die Bürokratie ist nicht etwas völlig Negatives, sondern es gelingt, das Kirchenvolk auf eine intensive Weise zu erfassen, sodass auf der einen Seite natürlich ein Teil der Gesellschaft kirchlich verloren geht, aber der andere Teil der Gesellschaft so stark motiviert und als Volkskirche innerlich erfasst wird, wie es vielleicht zu keiner Zeit vorher gewesen ist.
Also es kommt auch zu einer Intensivierung des Christentums im gewissen Sinne. Es sind vielleicht Phänomene, die sich sogar ein Stück weit gegenseitig bedingen. Gerade wenn man sich gegen die ungläubige Zeit, gegen kirchenkritische Strömungen in den Großstädten vor allem abgrenzen möchte, dann muss man die Gläubigen immunisieren, wappnen, den Glauben intensivieren, in Vereinen organisieren, durch kirchliche Presse formen und so fort. Also all das hängt zusammen und bedingt sich gegenseitig.
DOMRADIO.DE: Heute sprechen viele Priester von Überlastung, weil viele ihre Aufgaben administrativ sehen, gar nichts mehr mit Seelsorge oder Liturgie zu tun haben. Hat sich das damals schon abgezeichnet?
Unterburger: Es hat sich schrittweise abgezeichnet, denn die Bürokratisierung nimmt seit der Aufklärung und auch im 19. Jahrhundert zu. Das gehört einfach zur professionellen Führung des Pfarramtes. Ähnlich wie die Bürokratie im Staat immer stärker wird, so ist es auch in der Kirche. Aber es war natürlich trotzdem noch etwas anderes, denn die Pfarreien waren im 19. Jahrhundert in der Regel doch sehr viel kleiner als heute, wo es diese großen Verbände gibt. Das ist noch mal eine ganz andere Dimension, die jetzt auch durch den Priestermangel auf die heutigen Priester zukommt.
DOMRADIO.DE: Heute gibt es gewisse Kreise, die sagen, die priesterlichen Pflichten wie Gehorsam und Zölibat müsse man ja nicht so ernst nehmen. Die Realität ist etwas anderes als das Niedergeschriebene. Hat das sich auch früher schon abgezeichnet oder ist das eine neue Entwicklung?
Unterburger: Das 19. Jahrhundert ist ja gerade eigentlich die Epoche, wo vor allem die Pfarrer, sehr viel stärker vom Bischof abhängig werden. Der Bischof ist jetzt derjenige, der sehr viel stärkeren Zugriff auf die Ausbildung hat, das mehr kontrolliert. Während in den vorherigen Jahrhunderten höchstens ein Teil der Ausbildungszeit im Priesterseminar unter bischöflicher Kontrolle verbracht wurde, ist es jetzt möglich, das ganze Studium - häufig noch vorher schon die gymnasiale Zeit - im Internat sozusagen zu verbringen.
Die Pfarrer waren vor dem 19. Jahrhundert in der Regel auf ihren Pfarrstellen vom Bischof weit weg und weitestgehend unabhängig. Da gab es vielleicht mal eine Visitation oder ähnliches. Man wurde vom Bischof geweiht und oft war es das. Im 19. Jahrhundert entstehen jetzt diese großen Organismen der Generalvikariate. Die Bischöfe haben jetzt ganz andere Gelegenheit durch Verordnungen, durch Priester-Exerzitien, durch Fortbildungen und so fort, die Priester und auch die Pfarrer in immer stärkere Abhängigkeit zu bekommen. Das schlägt sich dann auch kirchenrechtlich ein Stück weit nieder. Dass Pfarrer immer leichter versetzbar werden durch den Bischof, dass man es als Gehorsamspflicht sieht, nach ein paar Jahren die Pfarrei wieder zu verlassen.
Das alles führt dann dazu, dass etwas, was im vormodernen Katholizismus gar nicht so streng kontrolliert werden konnte - die Gehorsamspflicht gegenüber den Bischof - natürlich jetzt sehr viel entscheidender und prekärer wird. Und dann kommt eben dieses Phänomen, wenn man das nicht leben kann oder möchte oder kritisiert, dass man dann sagt, die Lehre unterscheidet sich von der Praxis. Das war zwar vor dem 19. Jahrhundert auch der Fall, aber da konnte die zentrale Instanz noch gar nicht richtig durchgreifen. Und das wird im 19. und 20. Jahrhundert anders.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt da das Thema sexueller Missbrauch? Kann man das auch mit dieser Entwicklung erklären?
Unterburger: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil für die Zeit vor 1945 die Quellen entweder fehlen oder durch das Beichtgeheimnis schwer zugänglich sind. Aber man kann schon vermuten, dass gewisse Weichenstellungen da eine Rolle spielen. Entwicklungen, die das Seelsorgsideal betreffen. Das sind ja durchaus zunächst mal positive Anliegen, dass der Priester, der Kaplan Jugendliche formt, dass er Gruppenstunden mit ihnen macht und so weiter. Das sind ja Dinge, die vielleicht in der Vormoderne gar keine Priester in dieser Form gemacht haben. Das sind vielleicht strukturelle Elemente, die das ein Stück weit ermöglichen können.
Auf der anderen Seite mag es schon sein, dass die Idealisierung des Priesters anziehend für Leute ist, die davon Elemente abspalten, die eine abweichende Form von Sexualität ganz schwer in dieses Bild integrieren können. Es mag sein, dass dieses Priesterbild - und das ist ja auch ein Bild, das die Gläubigen als Erwartungshaltung an ihre Seelsorger stellen - ein Stück weit Abspaltungsphänomene begünstigt haben. Deshalb mag damit, soweit man das als Historiker sagen kann, der Missbrauch ein Stück weit mitbedingt gewesen sein.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben wir in der kommenden Woche eine große Tagung im Vatikan, die sich mit dem modernen Priesterbild auseinandersetzt. Was erwarten Sie sich davon? Mit welchem Blick schauen Sie darauf?
Unterburger: Ich glaube, dass diese Debatte bei uns natürlich seit Jahren und gerade in letzter Zeit sehr intensiv geführt wird, auch in vielen anderen, gerade west- und mitteleuropäischen Gesellschaften. Ich bin aber ziemlich sicher, dass es kein europäisches oder amerikanisches Problem ist, sondern dass es solche und ähnliche Phänomene auch in anderen Kulturen und Gesellschaften gibt, wo diese Debatten noch gar nicht so intensiv geführt werden, sei es in Südeuropa, in Osteuropa, sei es im außereuropäischen Bereich.
Wenn in Rom darüber gesprochen wird, ist das schon etwas Wichtiges, dass insgesamt in der Kirche eine Sensibilisierung für diese große Problematik entsteht. Rom kann da eine gewisse Signalwirkung haben und Sensibilität und Standards weltweit ein Stück weit bestärken. Die Wachsamkeit wächst. Das wäre jedenfalls meine Hoffnung.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.