Der australische Kardinal George Pell scheint objektiv betrachtet kein sympathischer Mensch zu sein. Das hört man oft, wenn man mit Beobachtern in und um den Vatikan spricht. Der Papst habe ihn immer "Der Ranger" genannt, sagt der Vatikanexperte Marco Politi, da Pell als Finanzaufklärer knallhart gewesen sein soll. Auch andere Stimmen im Vatikan sprechen davon, dass Pell vor allem menschlich nie ein Sympathieträger war - und vermuten hinter vorgehaltener Hand sogar, dass auch die Missbrauchsanschuldigungen gegen ihn damit zu tun haben könnten.
Nach Vorwürfen sexueller Übergriffe in Australien stand er jahrelang vor Gericht, verbrachte über ein Jahr im Gefängnis, bis ihn das höchste Gericht Australiens freisprach - mangels an Beweisen. Kurz nach dem Urteil in letzter Instanz wurden zwar weitere Ermittlungen gegen den ehemaligen Erzbischof von Melbourne und Sydney aufgenommen, denen folgte aber bis heute keine Anklage.
Die Rückkehr nach Rom
Seit letztem Herbst ist George Pell nun zurück im Vatikan. Eine offizielle Funktion hat der 79-Jährige dort nicht wieder aufgenommen. Aber man sieht ihn relativ häufig und prominent auftreten, so zum Beispiel bei der Ernennung der neuen Kardinäle Ende November. Nach seiner Rückkehr hat ihn auch Papst Franziskus zur Privataudienz empfangen. "Ich danke Ihnen für Ihr Zeugnis", sagte Franziskus hinterher. Im Januar machte die Geste der feierlichen Beerdigung für einen römischen Obdachlosen Schlagzeilen, zelebriert von zwei Kardinälen: Dem päpstlichen Almosenmeister Konrad Krajewski – und George Pell.
Gleichzeitig ist Kardinal Pell gerade unterwegs auf großer Medientour. In mehreren Medien ist er in einigen langen Interviews zu sehen und zu lesen, in denen er über seine Zeit im Gefängnis und über sein Gefängnistagebuch spricht, das auch in Deutschland bald veröffentlicht werden soll.
Kontroversen in Australien
Zumindest im Vatikan und einigen Medien scheint Pell also rehabilitiert zu sein. Dabei sah das vor einem Jahr noch ganz anders aus. In Erinnerung bleibt bei vielen ein Statement, dass Pells Anwalt Robert Richter im Gerichtssaal als Argument für eine Strafminderung anbrachte: Was Pell mit zwei Jungen in der Kathedrale von Melbourne angestellt haben soll, sei "Blümchensex" gewesen, und verlange deshalb keine Erhöhung des Strafmaßes.
Ist das nicht ein klares Schuldeingeständnis? Nein, betonte Anwalt Richter hinterher. Da der vorläufige Schuldspruch allerdings schon gefallen war, sei dies seine einzige Argumentationsbasis gewesen, um die Haftstrafe des verurteilten Kardinals zu verringern. Kein Geständnis, dass dies wirklich passiert sei – eher die einzig mögliche Argumentation in dieser Lage.
Täter oder Sündenbock?
Aber ist Pell vielleicht doch der Falschverstandene? Das Opfer einer medialen Hexenjagd? Er selber ist sich sicher, dass seine konservativen Standpunkte die Berichterstattung der Medien zum negativen beeinflusst hätten. Ganz abzustreiten ist das nicht. Im Moment findet in Australien ein Prozess gegen 27 Journalisten und Medien statt, die trotz Mediensperre über das Pell-Urteil berichtet hatten.
Warum Mediensperre? 2018 fanden zwei unabhängige Prozesse gegen Pell fast zeitgleich statt, nachdem das erste Urteil gefallen war, wollte die Justiz vermeiden, dass die Geschworenen des zweiten Prozesses sich vom ersten Urteil beeinflussen lassen. Einige australische Zeitungen druckten daraufhin schwarze Titelseiten ab, andere Medien ignorierten die Anweisung des Gerichts, da das öffentliche Interesse am Prozess so groß sei, dass man das Urteil nicht verschweigen dürfe. Die 27 Medienschaffenden haben schon vor Beginn des Prozesses ihre Schuld eingestanden.
Pell polarisiert
Aber warum ist gerade Kardinal Pell so umstritten? Warum wird er von einigen als Opfer und Sündenbock gesehen, andere vermuten in ihm das perfekte Beispiel der Übel in der katholischen Kirche? Es gibt sogar einige Verschwörungstheorien, die davon sprechen, dass von Pells Widersachern aus dem Vatikan Geld nach Australien geflossen sei, um den Prozess gegen den Kardinal zu beeinflussen.
Gerüchteweise wurden in den vergangenen Jahren umgerechnet 1,4 Milliarden Euro vom Vatikan nach Australien überwiesen. Einige vermuteten sogar, dass mit dem Geld Zeugen im Pell-Prozess beinflusst werden sollten. Der nächste Skandal im Vatikan? Die Vermutung lag nahe, konnte aber Mitte Januar widerlegt werden. Es handle sich nicht um 1,4 Millarden, sondern um 6 Millionen Euro, deren Verwendung auch klar nachzuweisen sei. Die australische Finanzaufklärung entschuldigte sich beim Vatikan für diesen Fehler.
Ist George Pell also das Opfer einer großen Verschwörung im Vatikan? Auf alle Fälle ist er mit seinem menschlich knallharten Auftreten und seiner Rolle des Finanzwächters einigen Leuten in Rom ziemlich sauer aufgestoßen. Das hat natürlich nichts mit möglichen Missbrauchsverbrechen zu tun. Obwohl das Verfahren beendet wurde, gibt es immer noch Vorwürfe gegen ihn, die im Raum stehen. Zwei zivilrechtliche Prozesse sind auch noch nicht abgeschlossen. Dass Pell nun allerdings wieder selbstbewusst und öffentlich auftritt und selbst vom Vatikan und dem Papst hofiert wird, spricht eine deutliche Sprache.
Renardo Schlegelmilch