Pfarrer Jan Opiéla ist unserer Gemeinschaft in Köln schon seit Jahrzehnten verbunden. Es hat mich schon immer berührt, wie spürbar wichtig ihm in jeder Messe, besonders beim Friedensgruß, das Thema Frieden ist. Warum das so ist, erklärt er in diesem Text, den er vor der Priesterweihe zu seinem Kelch verfasst hat:
"... Ein Teil meiner in der Kelchgestaltung festgehaltenen Lebensgeschichte ereignete sich in den Jahren 1974/75 bei der Ableistung des Wehrdienstes als Mitglied einer Bedienmannschaft an einem 120iger Mörsergeschütz. Nach einem gefechtsmäßigen Scharfschießen auf ein 3 km entfernt liegendes und mit Zielobjekten präpariertes Gelände, nahm ich rein zufällig an einer Begehung des mit mehrstündigen Feuer belegten Gefechtsfeldes teil und wurde so ganz unwillkürlich Zeuge der von mir mitverursachten Zerstörungen: eine bis zur Unkenntlichkeit zerpflügte Schweinehälfte; ein über und über mit Granatsplittern gespickter Holzstapel; ein zu einem Sieb gelöchertes Autowrack und ein mit kleinsten Einrissen versehenes, zuvor straff gespanntes Leinentuch.
Von einer magischen Kraft der zerstörerischen Technik angezogen und doch zugleich abgeschreckt, nahm ich ganz instinktiv, trotz Verbotes, einzelne, wahllos umherliegende Granatsplitter an mich und musste sie, aus nicht nachvollziehbaren Gründen, bis auf den heutigen Tag aufbewahren.
Nicht zuletzt wurde der Erinnerungswert dieses "Schrottes" aufs Grausamste noch dadurch gesteigert, dass ich mit ihm einen Unfall bei einem nächtlichen Übungsschießen verbinde, der einen mit mir in Wechsel beim schnellen gefechtsmäßigen Nachladen beschäftigten Kameraden um die Finger seiner rechten Hand brachte. Noch wie damals sehe ich mich, ausgerüstet mit Taschenlampe, im Licht der Suchscheinwerfer eine in liebliches Vollmondlicht eingetauchte, schneeverzauberte Winterlandschaft vergeblich absuchen nach den Fingern einer rechten Hand.
Gleichsam mit derselben Wucht, wie diese Splitter auf allen Kriegs- und Schlachtplätzen dieser Erde auf Körper treffen und Menschenleiber zerreißen, schlägt hier ein solches Schrottteil auf das wohlgeformte Äußere eines Trinkgefäßes. Tief bohrt sich dieser Fremdkörper in das einem Gerüst gleich stabile Gitterwerk und deformiert die architektonisch, vormals ebenmäßige Form derart, dass selbst die Kuppa dem Druck nicht standzuhalten vermag und sich gegenseitig nach innen verbeult.
Nach diesem Einschlag ist nichts mehr so wie zuvor geplant; alles wohl geordnete ist aus den Fugen geraten und lässt sich von uns nicht mehr in die Ausgangsposition bringen. Wir können nur noch verletzt in uns still hineinleidend dastehen, ob der erdrückenden Grausamkeiten nicht einmal mehr fähig zur Anklage, da wir es selber sind, die die fein gewobene Struktur göttlicher Liebe durch den aus der Freiheit der Kinder Gottes geborenen Willen zerstören. (...)
Auch wenn mit diesem Kelch noch so viele Erinnerungsmähler begangen oder Eucharistiefeiern gemeinsam gefeiert werden und wenn die verletzte Kuppa immer und immer wieder mit dem heiligsten Element angefüllt wird, die Deformation bleibt, die Scharfkantigkeit des Splitters bleibt, der Einschlag in die architektonisch, vormals ebenmäßige Form bleibt - alles bleibt! Und doch hat sich alles verändert, wie es erschütternder nicht belegt werden kann als mit diesem Tatsachenbericht eines Überlebenden von Auschwitz:
'Die SS erhängte zwei jüdische Männer und einen Jungen vor der versammelten Lagermannschaft. Die Männer starben rasch, der Todeskampf des Jungen dauerte eine halbe Stunde. 'Wo ist Gott? Wo ist er?' fragte einer hinter mir. Als nach langer Zeit der Junge sich immer noch am Strick quälte, hörte ich den Mann wieder rufen: 'Wo ist Gott jetzt?' Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: 'Wo ist er? Hier ist er... Er hängt dort am Galgen...' (aus : D. Sölle, Leiden Stuttgart 1980)"