Jeder dritte lebt von weniger als 5,50 US-Dollar am Tag

Gelingt China der Sieg über die Armut?

China hat eine atemberaubende Entwicklung hinter sich. Millionen Menschen sind aus bitterarmen Verhältnissen befreit. Doch Armut ist ein vielschichtiges Phänomen.

Autor/in:
Stefanie Ball
Kinder spielen im chinesischen Dorf Qiunatong / © Ruth Fend (epd)
Kinder spielen im chinesischen Dorf Qiunatong / © Ruth Fend ( epd )

Wer Chinas Großstädte an der Ostküste verlässt, ist schnell in der Einöde. Ochsenkarren ziehen den Pflug; staubige Straßen verbinden die Dörfer; rechts und links trocknen Orangenschalen und Reis auf dem Boden, den die Frauen später auf dem Markt verkaufen. Das chinesische Wirtschaftswunder, das Städte wie Shanghai, Peking und Shenzhen in glänzende Mega-Metropolen verwandelt hat, scheint hier nie angekommen zu sein.

Atemberaubende Entwicklung

Vor 40 Jahren lebten 90 Prozent der Chinesen in extremer Armut; sie hatten weniger als 1,90 US-Dollar täglich zur Verfügung. Das ist die von der Weltbank definierte Armutsgrenze. Heute sind es nur noch 1,9 Prozent. China hat eine atemberaubende Entwicklung hinter sich, die Millionen Menschen aus bitterarmen Verhältnissen befreit hat. Die verbliebenden 43 Millionen, die am Rande des Existenzminimums leben, will Präsident Xi Jinping bis 2020 aus der Armut führen.

Das Ziel steht ganz oben auf der politischen Agenda, und es wird wie ein Mantra in den staatlichen Medien wiederholt, begleitet von Bildern Xis, der in entlegenen Gegenden Dorfbewohnern die Hände schüttelt und sich danach erkundigt, ob sie genug Zahnpasta hätten und es nachts in den Lehmhütten nicht zu kalt werde. "Niemand wird zurückgelassen", betonte der Präsident in seiner Rede beim Parteitag im vergangenen Oktober.

"Ein vielschichtiges Phänomen"

Doch was ist jenseits dieser Grenze extremer Armut? Da beginnt die relative Armut. Laut der Weltbank muss jeder dritte Chinese mit 5,50 US-Dollar und weniger am Tag zurechtkommen. Überhaupt kritisieren Experten den alleinigen Fokus auf das Einkommen. "Armut ist ein vielschichtiges Phänomen", schreibt Philip Alston, Berichterstatter der Vereinten Nationen, in seiner Bilanz nach einer China-Reise.

In vielen ländlichen Gebieten fehlt es noch immer an (gut ausgestatteten) Schulen, Straßen und Krankenhäusern. Viele Kinder haben keinen Schulabschluss, die medizinische Versorgung ist mangelhaft und übersteigt vielfach die Einkommensverhältnisse.

"Arztrechnungen sind einer der Gründe, warum Menschen auf dem Land verarmen", heißt es in Alstons Bericht. Das Rentensystem funktioniert zwar halbwegs in den Städten, in denen genug Junge in die Kassen einzahlen. Doch nicht auf dem Land, wo die Alten zurückgeblieben sind.

Korruption in der Armutsbekämpfung

Ein anderes Problem ist die Korruption. Zur Armutsbekämpfung wurden eigens Programme aufgelegt. Doch für die Verteilung der Gelder sind lokale Funktionäre zuständig – und die bereichern sich gerne selbst.

In einem Fall hatte ein Dorfvorsteher in der Provinz Guizhou, eine der bedürftigsten Regionen des Landes, umgerechnet 20.000 Euro für den Aufbau seiner eigenen Firma abgezweigt. In der Provinz Shaanxi mussten Bewohner, die von einem Fonds profitieren wollten, zunächst eine Spende ans Dorf zahlen.

Jedes Jahr werden Hunderte Kader wegen Korruption in der Armutsbekämpfung verurteilt. Auch bei den Statistiken nehmen es die Provinzen nicht immer so genau. Karrieren in der Partei hängen stark von der Erfüllung der Zielvorgaben aus Peking ab. Um diese zu erreichen, könnten lokale Behörden zu niedrige Armutsraten melden, fürchten Experten. Auch beim Wirtschaftswachstum hatten einzelne Regionen zuletzt eingeräumt, die Statistiken geschönt zu haben.

"Stark verwurzelt"

Wo Land- und Viehwirtschaft nicht möglich sind, siedelt der Staat die Menschen um in mittelgroße, gesichtslose Städte, die in den vergangenen Jahren aus dem Boden gestampft wurden. Mindestens zehn Millionen Menschen, so sieht die Strategie zur Armutsbekämpfung vor, sollen bis 2020 ihre Dörfer verlassen. "Doch die Alten sind stark in den Gebieten verwurzelt; sie wollen ihr Zuhause nicht zurücklassen", sagt Matthias Stepan vom Berliner Institut für China-Studien.

Solche Umsiedlungen treffen auch andere: die Migranten in den Mega-Metropolen, die ihre Einwohnerzahlen begrenzen wollen. Kürzlich wurden Tausende Wanderarbeiter aus ihren Wohnungen in Peking geworfen und so zum Umzug in ihre Heimatdörfer gezwungen. Für dieses Millionenheer der Wanderarbeiter, das Chinas Aufstieg erst möglich gemacht hat, gibt es keine Hilfsfonds, die ihnen einen Weg in die Zukunft bereiten könnten.


Quelle:
KNA