Versöhnung ist ein zentraler menschlicher Wert, nicht nur in den großen Weltreligionen: Darin waren sich die Teilnehmer der "Jerusalemer Vergebungskonferenz" im katholischen Pilgerzentrum Notre Dame einig. Wie konkret Vergebung in Jerusalem aussehen kann - einer von Konflikten, Gewalt und Misstrauen geprägten Stadt - stand nicht auf der Tagesordnung der hochkarätig besetzten Veranstaltung.
Mit Absicht, wie die Veranstalter gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) betonen. "Der Muskel der Vergebung muss trainiert werden, und zwar im Kleinen", sagte der Mitbegründer des "International Forgiveness Institutes" und Ideengeber der Konferenz, Robert Enright. Gleich auf der politischen Ebene zu beginnen, hieße, "einen untrainierten Läufer in den Marathon zu schicken".
Redner aus allen monotheistischen Religionen
International bekannte Politiker und Religionsführer zählen zu den Rednern der bis Donnerstag dauernden Konferenz. Der frühere britische Oberrabbiner und Templeton-Preisträger Jonathan Sacks meldete sich mit einer Videobotschaft zu Wort. Neben dem palästinensischen Religionsminister Mahmoud Al-Habash sprachen Manilas Kardinal Luis Antonio Tagle, der frühere kamerunische Regierungsminister Adamou Ndam Njoya und der katholische Bischof von Amman, William Schomali.
Glaubenszeugnisse aus verschiedenen Ländern und Diskussionsrunden gingen der Frage nach der Bedeutung von Vergebung in den drei monotheistischen Religionen nach. Sensibel ausgewogen waren Anteil und Abfolge der Redner aus Judentum, Christentum und Islam. Entsprechend der einladenden Organisationen, die von ökumenischen Initiativen wie Tantur über interreligiöse Gruppen wie dem "Elijah Interfaith Institute" und Friedensinitiativen wie "Women wage peace" reichten, standen sanfte Töne im Vordergrund.
Der universelle Wert der Vergebung, ihre Fähigkeit, Kreisläufe von Rache und Gewalt zu durchbrechen und ihre gesundheitlichen Vorteile waren Themen, die sich als roter Faden durch die Beiträge des ersten Konferenztages zogen, dazu der Aufruf, bei der jungen Generation anzufangen und sie zu Versöhnung zu erziehen.
Kritische Töne - Theorie mit Realität abgleichen
Kritische Töne klangen allenfalls an, als Rabbiner Yuval Cherlow, Mitbegründer des national-religiösen Rabbiner-Netzwerks "Tzohar", aus ethischer Perspektive das Konzept Vergebung hinterfragte. Es verletze das Opfer ein zweites Mal, schwäche die Abschreckung vor verletzendem Verhalten und verringere die Rolle der Gerechtigkeit, warf der Philosophiedozent an der Bar-Ilan-Universität ein.
Ein Dilemma, dass Cherlow unter anderem dadurch löste, in dem er zum Blick auf das größere Ganze aufrief. Da kein Mensch nur Opfer sei, müsse es darum gehen, nach einem Weg zu suchen, die Welt zu verbessern. Aus dieser Perspektive ist das Konzept Vergebung für den Rabbiner trotz ethisch-philosophischer Anfragen weiterhin konkurrenzfähig.
Es gehe um die Suche nach dem Gemeinsamen, betonte die Mehrheit der Redner. Politik, so Konferenzleiterin Peta Pellach vom Elijah-Institute gegenüber der KNA, sei "bewusst außen vor gelassen" worden. "Wir sind überzeugt, dass Vergebung beim Individuum beginnt, von dort aus in die Gemeinschaft geht und diese dann Druck auf ihre Leitung ausüben muss. Was nur von oben kommt, hat keinen Bestand, die Veränderung muss an der Basis passieren."
Gerechtigkeit an erste Stelle setzen
Jerusalem wäre nicht Jerusalem, wenn es am Ende nicht doch um Politik ginge: Wer könne dem Konzept von Vergebung widersprechen, wie es die Redner präsentiert haben, fragte der Religionsminister Mahmoud Al-Habasch zu Beginn seines Beitrags. Die Kritik folgte unmittelbar. Die philosophische Theorie ist "gut, aber unzureichend" und müsse dringend mit der Realität konfrontiert werden.
"Wir müssen die Prinzipien in Verhaltensweisen übersetzen, und wir müssen realistisch sein", forderte der Palästinenser und führte drei tagesaktuelle Beispiele ins Feld: Zwei von der israelischen Besatzungsmacht erschossene Jugendliche, zwei Hauszerstörungen und 23 im Westjordanland festgenommene Palästinenser.
"Welche Bedeutung hat es angesichts dieser täglichen Realität, philosophisch zu reden?", fragte Habash. "Vergebung des Schwachen für den Starken", schlussfolgerte er, "ist Erniedrigung". An erster Stelle müsse daher Gerechtigkeit stehen.