DOMRADIO.DE: Die Gläubigen brauchen die Priester nicht als Organisatoren, sondern als Lotsen durch das ständig vom wechselnden Zeitgeist aufgewühlte Meer, schreiben Sie in einem Kommentar. Was meinen Sie, wenn Sie vom wechselnden Zeitgeist schreiben?
Pater Eckhard Bieger SJ (Jesuit und Medienexperte): Der ist ziemlich grundlegend und betrifft die Kirche. Es ist eine völlige Fehleinschätzung zu sagen, die kirchliche Institution sei an allem schuld. Es sind zwei Sachen, die die Entwicklung beeinflussen: Die Menschen wollen nicht mehr in einer großen Institution leben, die ihnen sagt, wie der Glaube zu leben ist. Das wollen sie selber herausfinden und dafür brauchen sie Priester.
Gleichzeitig braucht die Kirche nicht mehr Priester, die organisieren. Ich habe in einer englischsprachigen Gemeinde selbst die Erfahrung gemacht, dass das sehr gut funktioniert, wenn Mitglieder dieser Gemeinde das machen und ich Zeit nicht nur für die Messe habe, sondern auch für tiefgehende Gespräche.
DOMRADIO.DE: Könnte man denn auch die Gläubigen selbst spirituell tätig werden lassen? Dann könnte sich der Priester auf das Spenden und Feiern der Sakramente konzentrieren.
Bieger: Ich mache das auf jeden Fall immer so, dass die Predigt immer nur eine Einleitung für ein Gruppengespräch ist oder in einem anderen Gottesdienst machen wir das nachher. So kommen die Leute zu Wort und ich gebe nur die Anregungen. So orientieren die ihren Glauben im Austausch, so dass die nicht glauben, weil ich glaube, sondern weil sie das selber für sich mit den anderen entwickeln.
DOMRADIO.DE: Sie sehen im Ende der Volkskirche aber auch eine Chance, dass die Kirche in einer Diasporasituation wieder von mehr persönlicher Zuwendung geprägt wird. Aber wird dadurch nicht die Sicht auf die räumlichen Entfernungen unterschätzt, die ja doch die gleichen bleiben werden?
Bieger: Deshalb muss man kleinere Gruppen bilden. Diese Großpfarreien können das kirchliche Leben organisieren. Dafür braucht man nicht die kleine Pfarrei. Aber in diesem großen Raum braucht es mehr Begegnung. Da habe ich Erfahrung als alter Pfadfinder. Wir waren als Pfadfinder immer auch für die Gemeinde da. Wir haben auch Aufgaben übernommen. Aber das, was wir gemacht haben, haben wir nicht von der Pfarrei erwartet.
Ich glaube, da kann man zu einem Modell zurückkehren, was die Kirche nach der Paulskirchen-Demokratisierung groß gemacht hat. Das war ja nicht die Amtskirche, sondern das waren die vielen Gruppen, aus denen zum Beispiel auch die Caritas hervorgegangen ist.
DOMRADIO.DE: Das heißt also, dass die Gläubigen auch selbst tätig werden?
Bieger: Das ist ja Christentum. Das ist keine Veranstaltung einer Institution, wo ich mal hingehe und mal nicht, sondern was mein Leben prägen soll. Deshalb gehört zum Beispiel ein caritativer Einsatz zu jedem Christenleben. Wenn ich nur Liturgie feiere, reicht das einfach nicht, um die Nachfolge Jesu zu praktizieren.
DOMRADIO.DE: Durch die Corona-Pandemie ist manches eingeschlafen, anderes hingegen neu entstanden oder hat einen Auftrieb erhalten wie zum Beispiel die Internetpastoral. Müsste die Kirche nicht vielmehr auch auf solche neuen Formen der Seelsorge stützen?
Bieger: Das DOMRADIO muss sich ausweiten und noch viel mehr anbieten, weil die Hälfte der Kirchenmitglieder nur noch medial teilnimmt. Wir haben genauso viele Gottesdienstbesucher wie Teilnehmer, die sich über den Bildschirm am Gottesdienst beteiligen. Das sind keine Unterhaltungssuchenden, sondern die wollen kirchlich und sakramental und gottesdienstmäßig dabei sein, sonst würden die die Sendung gar nicht einschalten. Die Hälfte der Pastoral muss deshalb Medienpastoral werden. Hier müsst Ihr viel mehr machen.
DOMRADIO.DE: Dennoch halten viele Diözesen an der Bildung von XXL-Gemeinden fest. Wie lange wird das gut gehen?
Bieger: Ich glaube, das wird sich organisch entwickeln. Man muss da keine Katastrophenstimmung erzeugen. Es muss sich ein anderes Priesterbild durchsetzen, das bei der Spiritualität des Einzelnen und der persönlichen Berufung ansetzt und das nicht einen Verteilungsplan hat, wo so und so viel Pfarrer nötig sind und alles okay ist, wenn die Stellen besetzt sind. Da ist die Postmoderne viel fordernder.
Der Priester muss mehr spirituell und auch mehr philosophisch bringen. Dann wird die Kirche auch viel mehr Ausstrahlung von den Leuten haben. Die würden auch aus ihrer Überzeugung sehr viel mehr Stellung nehmen am Arbeitsplatz, medial. Und sie werden dann auch für viele Interviews zur Verfügung stehen, die Ihr dann machen könnt.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.