domradio.de: Eigentlich ist die Lossprechung von Abtreibung nur in bestimmten Kirchen und durch bestimmte Beichtväter möglich. Wie ist nun die Geste mit der erleichterten Beichtpraxis beim Thema Abtreibung zu verstehen?
Dr. Christiane Florin (Redaktionsleiterin bei der Zeit-Beilage "Christ und Welt"): Ich finde es schon recht interessant, dass er sich ausgerechnet dieses Thema rausgegriffen hat. Ablässe sind ja nicht Neues. Auch Benedikt XVI. hat im Jahr 2012 - zum Jahr des Glaubens - einen Ablass verkündet. Aber, dass sich Franziskus jetzt dieses sehr emotional besetzte Thema rausgreift, ist schon besonders. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass es ein polarisierendes Thema ist. Wir befinden uns momentan in der Kirche an einem Punkt, wo wir diese besonders polarisierende Debatte im Vorfeld der Familiensynode erleben. Er sagt ja weiterhin, dass Abtreibung Sünde ist. Das ist nicht überraschend für einen Papst. Aber ich finde die Art, in der er über eine Frau spricht, die abgetrieben hat, bemerkenswert. Er findet bzw. denkt sich in die Situation und den Druck rein. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer existentiellen moralischen Tragödie und ergänzt, dass er vielen Frauen begegnet sei, die in ihrem Herzen Narben tragen. Allein diese Sprache ist ja schon neu. Wenn diese Frauen ehrlich bereuen und zugeben, eine Sünde begangen zu haben und Teil der Kirche bleiben wollen, dann darf man ihnen die Absolution geben. Man muss dabei speziell für die deutsche und österreichische Kirche noch wissen, dass es durch eine Entscheidung der Bischofskonferenz ohnehin möglich ist, dass Priester bei einer Abtreibung die Absolution aussprechen dürfen und nicht automatisch eine Exkommunikation folgt.
domradio.de: Glauben Sie, die Vergebung von Abtreibung wird wirklich auf das Heilige Jahr beschränkt bleiben? Oder erwarten Sie sich auch eine Auswirkung darüber hinaus?
Dr. Christiane Florin: Ich habe an Franziskus ohnehin immer die Erwartung, dass er sich nicht so sehr beschränkt. Er macht es ja sehr interessant. Er setzt bestimmte Zeichen, die dann mehr auslösen als man am Anfang gedacht hat. Aus taktischer und strategischer Sicht glaube ich, dass er bei diesen Themen wie Abtreibung etwas aufbrechen möchte. Ich kann mir schon vorstellen, dass das über das Heilige Jahr hinaus wirkt. Er zeigt mit einer letztlich sehr schlichten Geste, dass eine Jahrzehnte dauernde Debatte neu aufgenommen werden kann. Es sollen beide Seiten, das konservative und das liberale Lager, noch einmal zum Nachdenken bewegt werden. Das macht er immer wieder und das finde ich an ihm so interessant und beeindruckend.
domradio.de: Franziskus geht auch auf die Piusbrüder zu, in dem er allen Katholiken während des Heiligen Jahres erlaubt, die Beichte auch bei der traditionalistischen Bruderschaft Sankt Pius X. zu empfangen. Was bedeutet das für das Verhältnis von Franziskus zur Piusbruderschaft?
Dr. Christiane Florin: Da hat sein Vorgänger Benedikt XVI. eine neue Diskussion angestoßen, in dem er auf die Piusbrüder einen Schritt zugegangen ist. Die Verhandlungen sind dann aber ins Stocken geraten. Vor allem deswegen, weil die Piusbrüder sagen, sie würden sich aber nicht auf die katholische Kirche und das II. Vatikanische Konzil zubewegen. Ich glaube, dass man auch diese Äußerung von Franziskus strategisch und taktisch verstehen muss. Da ist es ähnlich wie bei der Abtreibung. Das existiert auch eine sehr, sehr verhärtete Front. Franziskus steht auf dem Standpunkt, dass man an der bestehenden Situation nichts verändert, wenn man die Fronten jetzt noch zusätzlich verhärtet. Dieses Zugehen auf die Piusbrüder ist für mich eher eine Zumutung, die er dem liberalen Lager aufbürdet. Bei denen kommt dann sofort der Reflex, mit den "Schmuddelkindern", die nicht einmal auf dem Boden des II. Vatikanums stehen, möchten wir nicht reden oder spielen. Er verlangt uns einiges ab. Und das ist auch der Sinn eines solchen besonderen Jahres. Man sollte noch einmal über das, was man für sicher gehalten hat, nachdenken und sich ändern oder bewegen. So wie ich die Situation mit den Piusbrüdern und Kardinal Müller als Präfekten der Glaubenskongregation einschätze, wird der Kardinal bestimmt keine Zugeständnisse machen. Er wird sicher nicht sagen, dass man drei Forderungen weniger aufstellt und sich damit auf die Piusbrüder zubewegt. Ich sehe das eher zeichenhaft. Es geht darum, durcheinander zu wirbeln.
domradio.de: Was bedeuten diese Erleichterungen mit Blick auf die Familiensynode?
Dr. Christiane Florin: Bei der Familiensynode haben wir ja erlebt, dass der Papst zwar zu einer Debatte aufgefordert hat, aber eigentlich keine wirkliche Debatte im Sinne eines echten Austauschs erwirkt hat. Man hat sich nicht in die Augen geschaut und miteinander diskutiert. Etwas klischeehaft formuliert haben sich beide Lager, das liberale und das konservative, verschanzt und schießen aus der Deckung aufeinander. Aber keiner ist bereit, auch nur eine Kompromisslinie aufzuzeigen. Vor allem die Konservativen sagen, wenn man bei der Ehe - wie zum Beispiel der Unauflöslichkeit - irgendwelche Abstriche machen müsse, dann seien für sie die Kirche verloren und man mache nicht mehr mit. Insofern kritisiert Franziskus auch mit dieser Erklärung zum Ablass das Grundverhalten des Eingrabens. Zu dieser Haltung sagt Franziskus, so gehe es nicht weiter und so könne in der Kirche nicht debattiert werden. Es würde einem auch nicht gerade mit so einem Verhalten der Heilige Geist anwehen. Ich sehe das also schon in enger Verbindung mit der Familiensynode. Die fängt ja in gut vier Wochen an und Franziskus fordert eine Veränderungsbereitschaft, damit es eine fruchtbare Synode wird.
Das Interview führte Aurelia Rütters