dpa: Von einer "tiefen Angst bei der jüdischen Bevölkerung vor dem muslimischen Terrorismus" hat Charlotte Knobloch, ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, kürzlich gesprochen. Wie ist Ihr Eindruck: Ziehen sich viele der Düsseldorfer Gemeindemitglieder derzeit zurück?
Michael Szentei-Heise (Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf): Ich habe nicht das Gefühl, dass sich die Menschen aus Angst verkriechen. Allerdings sieht man dem einzelnen Juden ja nicht unbedingt an, dass er Jude ist. Wenn man also in der Stadt unterwegs ist, ist die Bedrohungslage nicht allzu groß. Aber die jüdischen Eltern, die ihre Kinder zu uns in den Kindergarten schicken, sagen schon: Passt bitte gut auf. Und wir haben unsere Sicherheitsmaßnahmen nach dem Terror in Paris noch mal verschärft.
dpa: Welche Sicherheitsvorkehrungen wurden getroffen?
Szentei-Heise: Es gibt hier mehrere Beteiligte, die für unsere Sicherheit sorgen, und mit denen sprechen wir natürlich ganz genau über Möglichkeiten. Es gibt immer Konsequenzen, wenn sich die Sicherheitslage verschärft. Dazu gehören etwa strengere Einlasskontrollen.
Hassmails, strenge Sicherheitsmaßnahmen und ein zunehmender Antisemitismus: Juden in NRW fühlen sich wieder stärker bedroht. Gerade von der Bevölkerung würden sich jüdische Gemeinden mehr Unterstützung wünschen. Sie geben schon lange auf Ihrer Homepage keine Termine mehr bekannt.
Szentei-Heise: Richtig. Wir wollen nicht, dass sich eventuelle Attentäter auf Veranstaltungen vorbereiten können.
dpa: Fühlen Sie sich durch die ganzen aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen eingeschränkt?
Szentei-Heise: Die Zeiten, in denen wir uns dadurch persönlich eingeengt fühlen, sind vorbei. Das ist für uns Alltag und im Grunde eine Diskussion, die wir uns nicht leisten können. Ich bin verantwortlich für die Menschen, die hier ein- und ausgehen.
dpa: Hat der Antisemitismus in letzter Zeit in Deutschland zugenommen?
Szentei-Heise: Eindeutig, ja. Im vergangenen Sommer als der Gaza-Krieg wieder hoch gekocht ist, sind Menschenmassen durch die deutschen Städte gelaufen und haben gerufen: "Juden ins Gas". Da waren auch vermeintlich ganz normale Deutsche darunter. Das ist erschreckend.
dpa: Wie sehr beunruhigt Sie eine solche Entwicklung, 70 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz?
Szentei-Heise: Meine Mutter war Überlebende von Auschwitz. Ich habe also einen direkten Bezug dazu. Hätte man mir vor 20 Jahren gesagt, dass in Deutschland wieder Menschen öffentlich "Tod den Juden" rufen, hätte ich das nicht geglaubt. Der Dimension des Schreckens ist ein neuer Aspekt hinzugefügt worden.
dpa: Sehen Sie die Politik in der Pflicht mehr zu tun?
Szentei-Heise: Die Bekenntnisse der Politik gegen Antisemitismus sind klar und von allen wichtigen Amtsträgern formuliert worden. Von der Politik verlange ich also nicht allzu viel. Aber ich würde mir wünschen, dass von der Bevölkerung deutlich mehr Solidarität ausgeht. Das vermisse ich stark.
dpa: Wie hat das Internet zu den aktuellen Entwicklungen beigetragen?
Szentei-Heise: Wir kriegen ziemlich viele Hassmails, werden im Netz beschimpft, gerade wenn der Gaza-Krieg wieder tobt. Auch wenn ich persönlich mich als Funktionär der jüdischen Gemeinde äußere, bekomme ich Drohmails. Früher waren die alle anonym, heute sogar oft mit vollem Namen.
dpa: Fragen Sie sich manchmal, warum Sie sich persönlich das alles noch antun?
Szentei-Heise: Nein, nie. Ich will dafür sorgen, dass es ein lebendiges jüdisches Leben gibt, was nicht nur aus der Historie, aus dem Holocaust heraus lebt. Es gibt jüdische Werte und die wollen wir unseren Kindern weitergeben. Ich hatte nie so sehr Angst, dass ich das aufgeben wollte.
dpa: Wie ist Ihre Prognose für die Zukunft?
Szentei-Heise: Im Hinblick auf den islamistischen Terror bin ich pessimistisch. De facto ist es so, dass Europa, Deutschland, jetzt eine Situation erlebt, die der Staat Israel schon seit Jahrzehnten kennt: Bedrohungen und Terror im Alltag. Ich glaube nicht, dass die Gründe für den Islamismus kurzfristig beseitigt werden können, und ich persönlich befürchte, dass ich es nicht mehr erleben werde, dass das zu Ende geht.
Das Interview führte Laura Gitschier.