In der Erde wühlen, das macht ihr Spaß. "Ich bin total neugierig, was da stecken könnte und will mal Paläontologin werden, um nach Fossilien zu graben", sagt Jasmin Hann. Jetzt hockt die 16-Jährige im Gelände des ehemaligen NS-Kriegsgefangenenlagers Sandbostel bei Bremen und legt mit der Handschaufel die Fundamente einer alten Baracke frei. Über die Jahrzehnte hat sich die Natur das Areal zurückerobert und alte Mauerreste mit einer teils bis zu 30 Zentimeter dicken Vegetation überwuchert. Mit ihr arbeiten auf dem Gelände der Gedenkstätte derzeit 22 Jugendliche aus sieben Nationen an archäologischen Grabungen.
Geschichte berühren
Sandbostel ist eines von 59 internationalen Workcamps in vielen Ländern Europas, die in diesem Jahr vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisiert werden. Immer geht es dabei um die praktische Pflege von Kriegsgräbern und Gedenkstätten. Aber auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Fragen des Friedens und eines toleranten Miteinanders ist wichtig. "Hier in Sandbostel kannst du bei den Grabungen und bei Sanierungsarbeiten in den Baracken Geschichte berühren", sagt Daria Antonova aus dem nordrussischen Archangelsk.
Die 24-jährige Studentin spricht perfekt Deutsch und war schon mehrfach in Sandbostel, diesmal ist sie als Leiterin des Workcamps hier. Sandbostel ist bundesweit das einzige NS-Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglager, in dem viele historische Gebäude noch erhalten sind. Während des Zweiten Weltkrieges zählte es zu den größten Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht und ist in besonderer Weise mit der Heimat von Daria Antonova verbunden.
Über Ungleichbehandlung lernen
Bis zur Befreiung durch britische Soldaten am 29. April 1945 durchliefen nach bisherigen Recherchen 313.000 Kriegsgefangene, Zivil- und Militärinternierte aus mehr als 55 Nationen das Lager. Die russischen Gefangenen zählten zusammen mit den Franzosen zur größten Gruppe und wurden besonders schlecht behandelt. "Hier lässt sich viel über Ungleichbehandlung lernen", ist Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann (51) überzeugt.
Für die Jugendlichen aus Russland, der Ukraine, Dänemark, Ungarn, Rumänien, der Türkei und Deutschland geht es aber nicht nur um das Lernen. "Ich treffe hier neue Leute", freut sich Jasmin Hann. Und für den 17-jährigen Berliner Linus Kameni, der gerade alte Barackenfenster saniert, verbinden sich im Workcamp soziales Engagement und Spaß.
"Die Camps sind Treffpunkte für junge Menschen, die gemeinsam Botschaften für ein friedlich-tolerantes Miteinander entwickeln und die Erinnerungskulturen Europas mit gestalten", sagt Volksbund-Koordinator Konstantin Dittrich in Kassel. Die Teilnehmer leisteten außerdem einen wichtigen Beitrag zur würdigen Gestaltung und zum Erhalt von Gräbern als Mahnmale gegen Krieg und Gewaltherrschaft.
Ein erstes Jugendlager organisierte der Volksbund bereits 1953 auf der Kriegsgräberstätte im belgischen Lommel. Seither sind die Teilnehmerzahlen kontinuierlich gestiegen. "2014 machten mehr als 1.700 Jugendliche aus 31 Ländern mit", bilanziert Dittrich.
Teilnehmer aus Russland und der Ukraine
"Politik ist das eine - was wir hier machen, ist etwas anderes", hat Daria Antonova dabei erfahren. Ein Beispiel dafür sind für sie die Teilnehmenden aus Russland und der Ukraine, die in Sandbostel Seite an Seite arbeiten, obwohl im Osten der Ukraine Soldaten aus ihren Heimatländern gegeneinander kämpfen. Michael Freitag-Parey, Mitorganisator und Friedenspädagoge der hannoverschen Landeskirche in Sandbostel, betont die Kraft der persönlichen Begegnung: "Das baut diffuse Ängste ab und gibt den Teilnehmenden das Gefühl, dass sie in ihrem Engagement für den Frieden nicht alleine stehen."
Dass Sandbostel ein Ort ist, an dem so viele Russen leiden mussten, tut Daria Antonova weh. Aber Hass auf die Deutschen, nein, den habe sie nicht. "Das ist jetzt eine andere Zeit", meint die Camp-Leiterin. "Wir reden gemeinsam über den Frieden, setzen uns dafür praktisch ein und erkennen, dass wir gleiche Bedürfnisse und Interessen haben - und Freunde sein können."