Gibt es so etwas wie eine "ostdeutsche Theologie"? Wie treibt man Theologie in einem Umfeld, in dem über Generationen eine massive Distanz zu Kirche und Religion gewachsen ist? Hat das Einfluss auf die Forschungsthemen- und -perspektiven? In Erfurt kamen beim neuen "Forum Junge Theologie" am Freitag erstmals Theologie-Doktoranden und Professoren – katholische, evangelische, jüdische – aus ganz Ostdeutschland zusammen, um über diese Fragen zu diskutieren und ihre wissenschaftlichen Themen vor diesem Kontext zu reflektieren.
Wie mit Erlösungs-Angebot hausieren gehen?
Die Erfurter Dogmatik-Professorin der katholischen Fakultät, Julia Knop, ist sich sicher: "Manche Dissertationen können nur hier in Ostdeutschland geschrieben werden, weil sie um Fragestellungen kreisen, für die es an westdeutschen Fakultäten kaum ein Bewusstsein gibt und die dort vermutlich als zu dekonstruktivistisch eingestuft würden."
Ein Doktorand etwa fragt mit Blick auf seine Arbeit: "Wie wollen wir denn mit unserem Erlösungs-Angebot hausieren gehen, wenn die Menschen hier mehrheitlich sagen: Erlösung? Brauchen wir nicht." Zu antworten: "Doch, doch, jeder Mensch ist erlösungsbedürftig" greife da vielleicht doch etwas zu kurz und nehme nicht wirklich ernsthaft die Perspektive des Gegenübers ein. "Ich denke, theologische Forschung in Ostdeutschland reflektiert in größerem Maße über Grundlagen, die in Westdeutschland noch als selbstverständlich gelten", so Knop.
Dazu passt auch das Dissertations-Thema einer konfessionslosen Ethik-Lehrerin: Grundlagen der Verständigung von religiösen und nicht-religiösen Menschen, unter besonderer Berücksichtigung von Schülern. Eine höhere Sensibilität für Sprache, so sind sich die Doktoranden weitgehend einig, bringe das Theologie-Treiben im weitgehend säkularisierten Ostdeutschland mit sich.
Studenten und Professoren sehen in Diaspora kein Manko
"Wenn wir gehört werden wollen, wenn wir als Stimme in der Gesellschaft wahrgenommen werden wollen, dann brauchen wir eine Sprache, die andere Menschen verstehen, und hier in der Region kann man eben null kirchliche Sprachkenntnisse voraussetzen – das ist eine gute Schule", schildert ein Doktorand seine Erfahrungen.
Nicht zuletzt auf die Lehre habe der säkulare Kontext Einfluss, berichtet ein anderer Teilnehmer aus Halle: "Ich unterrichte Lehramtsstudenten, und die haben zum Teil keinerlei Kirchenbezug, keine Ahnung, warum sie Religionslehrer werden wollen – aber da muss man sich in der Lehre drauf einstellen und erstmal jede Menge Grundlagen vermitteln."
Die Diaspora sehen Studenten wie Professoren bei alledem keineswegs als Manko. "Ich fremdel mit dem Begriff, 'Diaspora' kommt immer so lamentierend rüber: 'Ach, wären wir doch mehr.' Dabei sind die stark säkularisierten Kontexte, in denen wir leben, doch zunehmend die Norm", sagt eine Doktorandin aus Jena. Ja, es gebe eine Zerstreuungssituation, "aber das darf auch so sein, das hat nichts Schlechtes".
Theologie als "kulturelles Laboratorium"
Der Liturgiewissenschaftler und Vizepräsident der Universität Erfurt, Benedikt Kranemann, nannte als Qualitätsmerkmal der Theologie in Ostdeutschland, "sich der umgebenden nichtchristlichen oder vielleicht besser konfessionslosen Gesellschaft bewusst sein zu müssen, wenn man nicht in der Sicherheit des Elfenbeinturms oder im wissenschaftlichen Ghetto leben möchte". In Ostdeutschland seien sich Theologen stärker der Notwendigkeit bewusst, das gesellschaftliche Umfeld und die "Glaubwürdigkeit der eigenen Gottesrede" in ein Miteinander zu bringen.
"Gerade in einer christlichen Diaspora ist eine Theologie notwendig, die das konfessionell Eigene und Gewachsene nicht zurückstellt, aber kooperiert, und zwar nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich", so Kranemann. "Das, was in Ostdeutschland an Ökumene, Verständigungswillen und Zusammenarbeit trotz trennender Momente gewachsen ist, müsste zum Umgang der Theologie mit den großen Fragen der Gegenwart befähigen."
Insofern könnte und sollte Theologie "kulturelles Laboratorium" sein. Das neue "Forum Junge Theologie" der theologischen Institute und Fakultäten der Universitäten Erfurt, Jena, Leipzig, Halle, Dresden und Berlin könnte dafür ein gutes Reflexions-Instrument sein.
Karin Wollschläger