16 Stunden lang lag Shila Begum hilflos unter den Trümmern. Ihr rechter Arm war unter einer Nähmaschine, ihr Bauch unter einem Wandpfeiler zusammengequetscht. "Wenn ich zu mir kam, hatte ich unbeschreibliche Schmerzen und dachte, dass ich meine Tochter nie mehr wiedersehen würde", erinnert sich die Näherin an den Unglückstag vor einem Jahr, als in Bangladesch das Fabrikhochhaus Rana Plaza einstürzte. Die heute 26 Jahre alte Näherin gehört zu den rund 1.650 Verletzten des schwersten Fabrikunglücks in der Textilindustrie Bangladeschs am 24. April 2013. Mehr als 1.130 Menschen verloren dabei ihr Leben. Erst am Tag zuvor waren an dem achtstöckigen Gebäude Risse festgestellt worden. Dennoch wurden Tausende Näherinnen von den Fabrikbesitzern gezwungen weiterzuarbeiten, für Hungerlöhne.
18 westliche Firmen bezogen Kleider aus der eingestürzten Fabrik
Mindestens 18 westliche Modefirmen bezogen nach Angaben von Aktivisten Kleidung aus den Fabriken des Rana Plaza, darunter die deutschen Unternehmen Adler, NKD, KiK, KANZ/Kids Fashion Group und Güldenpfennig. Auch T-Shirts, Hosen und Pullover von Benetton, Mango, Primark und C&A wurden dort genäht.
Die Katastrophe warf ein Schlaglicht auf die Missstände in der Textilindustrie in Bangladesch und löste weltweit Entsetzen aus.
"Vielen Verbrauchern hat das Unglück erst vor Augen geführt, unter welch unmenschlichen Bedingungen ihre Kleidung hergestellt wird", sagt Frauke Banse von der Kampagne für Saubere Kleidung. Nach Protesten im In- und Ausland wurden Initiativen gestartet, um die Sicherheit in den Fabriken und die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Doch nach Ansicht von Gewerkschaften und Aktivisten reicht das noch lange nicht aus.
Kampagne: Bis zu 100 Überstunden pro Woche
So wurden im vergangenen Jahr mehrere Verträge geschlossen, um die Sicherheit in den rund 5.000 Textilfabriken in dem südasiatischen Land zu verbessern. Einem Gebäude- und Brandschutzabkommen traten 150 vorwiegend europäische Unternehmen bei, es umfasst etwa 1.700 Betriebe mit mehr als zwei Millionen Beschäftigten. Die Sicherheit wird nun von den Behörden überprüft, und etliche Fabriken mussten bereits geschlossen werden. Die Besitzer des Rana Plaza und einige Fabrikbetreiber wurden festgenommen und verurteilt. An den Arbeitsbedingungen haben die Abkommen aber wenig geändert. Die überwiegend weiblichen Beschäftigten müssten weiter bis zu 100 Überstunden pro Woche leisten und seien Beschimpfungen und körperlicher Gewalt ausgesetzt, erklärt Gisela Burckhardt von der Frauenrechtsvereinigung FEMNET, Mitträgerin der Kampagne für Saubere Kleidung. Gewerkschaften würden weiter unterdrückt.
Die Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von umgerechnet 30 auf 53 Euro brachte den Näherinnen laut Burckhardt wegen der hohen Inflation netto kaum mehr Lohn. Das Einkommen müsste bei 256 Euro liegen, um eine vierköpfige Familie ohne Überstunden zu ernähren.
Zudem habe in den ersten beiden Monaten dieses Jahres nur die Hälfte der Betriebe den Mindestlohn auch tatsächlich überwiesen. "Viele Fabrikbesitzer erklärten, sie könnten den neuen Lohn nicht zahlen, da die Einkäufer keine höheren Preise gezahlt hätten, sondern im Gegenteil die Preise weiter drückten", sagt Burckhardt.
Auch bei den Entschädigungen für die Rana-Plaza-Opfer werden die westlichen Firmen nach Einschätzung der Aktivisten ihrer Verantwortung nicht gerecht. Um medizinische Kosten und Lohnausfälle abzudecken, sind knapp 30 Millionen Euro notwendig. In einen Entschädigungsfonds unter Aufsicht der Internationalen Arbeitsorganisation wurde aber erst etwa ein Drittel davon eingezahlt. "Die meisten Firmen ducken sich weg", sagt Banse.
Katholikenkomitee fordert Entschädigung für Opfer in Bangladesch
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) fordert Unternehmen zur Entschädigung der Betroffenen auf. Es sei "die Pflicht derer, die von der Arbeit der verunglückten Menschen am meisten profitiert haben, unverzüglich Hilfe zu leisten für die Opfer und die Angehörigen der Toten", erklärte ZdK-Präsident Alois Glück am Montag in Bonn. Es sei ein Skandal, dass bisher nur ein Viertel der versprochenen Mittel durch die Unternehmen gezahlt worden sei
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU)hat einen Runden Tisch zu Sozialstandards in der Textilindustrie ins Leben gerufen. Zu den Beratungen am 30. April werden Vertreter von Textilindustrie, Handel, Gewerkschaften und Arbeitsrechtsinitiativen eingeladen.
Hauptziel des Ministers seien freiwillige Selbstverpflichtungen von Industrie und Handel auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, hieß es. Im Gespräch ist ein neues Gütesiegel. Die Verbraucher sollten Orientierungshilfen haben, damit sie die Wirtschaft unter Druck setzen könnten. Sollten freiwillige Vereinbarungen nicht greifen, erwägt Müller auch, gesetzliche Regelungen auf den Weg zu bringen. Die Kampagne für Saubere Kleidung betonte, ein neues Siegel dürfe nicht nur eine Sache von Unternehmen sein, sondern müsse auch Gewerkschaften und Initiativen beteiligen.
Das Siegel sollte sich zudem nicht nur auf Produkte wie T-Shirts, Jeans oder Baumwolle beziehen, sondern auf das gesamte Unternehmen und seine Zulieferkette. "Die Produktion ist heute sehr komplex", sagte Bernd Hinzmann von der Kampagne für Saubere Kleidung. Bisherige Siegel hätten nur für einige Herstellungsschritte Geltung, was für die Verbraucher kaum durchschaubar sei.
Der Unternehmensberater Sean Ansett gab zu bedenken, dass nur sehr wenige Konsumenten die Markenhersteller fragen, wo ihre Kleidung herkomme. Es gebe aber ein gesteigertes Bewusstsein über die Problemlage, sagte Ansett, der das Brandschutz-Abkommen mitausgehandelt hatte. Allerdings kenne er nicht eine einzige Studie, die zeige, dass Käufer mehr für nachweislich ethisch hergestellte Produkte bezahlen wollten.