Kann es Versöhnung im Nahen Osten geben?

"Der Schock sitzt tief"

Die Opferzahlen nach dem Terrorangriff der Hamas steigen an, es droht ein Krieg an mehreren Fronten. Ist in der Situation überhaupt schon an Versöhnung zu denken? Friedensprojekte wie Givat Haviva wollen die Hoffnung nicht aufgeben.

Ein Blick auf die Schäden eines Raketenangriffs in Ashkelon, Israel. / © Ilia Yefimovich (dpa)
Ein Blick auf die Schäden eines Raketenangriffs in Ashkelon, Israel. / © Ilia Yefimovich ( dpa )

DOMRADIO.DE: Givat Haviva unterhält in Israel über 35 verschiedene Projekte zur Verständigung zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung. Außerdem gibt es einen internationalen Campus, auf dem junge Menschen gemeinsam eine Zeit lang lernen und leben. Das dortige jüdisch-arabische Zentrum hat 2001 sogar den Friedenspreis der UNESCO bekommen. Was hören Sie jetzt von dieser Einrichtung? Sie liegt ja nicht in der Nähe der erfolgten Angriffe...

Ruth Ratter (Vorsitzende des Freundeskreises Givat Haviva Deutschland e.V.): Das ist richtig. Dennoch liegt sie natürlich auch in einer Gegend im Norden von Israel, in der sehr viele Araber leben. Ich höre von vor Ort, dass die Solidarität mit all den Opfern und vor allen Dingen den Hinterbliebenen sehr, sehr groß ist, aber auch dass die Angst sehr groß ist.

Der Schock tief sitzt und es gibt die Befürchtungen, dass ganz Israel jetzt in eine Eskalation der Gewalt getrieben wird.

Ruth Ratter

"Was kann man tun, um das, was man jetzt in 60 Jahren aufgebaut hat, nicht alles in Schutt und Asche gelegt wird?"

Die ersten drei Tage nach dem Angriff standen unter dem Zeichen, dass man versucht hat festzustellen, ob alle Verwandten und Freunde, die im Süden von Israel wohnen, noch am Leben sind. Und jetzt ist es tatsächlich so, dass man nach vorne zu schauen beginnt und gemeinsam überlegt: Was kann man tun, um das, was man jetzt in 60 Jahren aufgebaut hat, nicht alles in Schutt und Asche gelegt wird?

DOMRADIO.DE: Sie haben es angesprochen. Seit 60 Jahren gibt es Versöhnungsarbeit von Givat Haviva. Wie hat die bislang funktioniert?

Ratter: Sie hat ausgezeichnet auf unterschiedlichen Ebenen funktioniert. Vom Kindergartenalter angefangen bis zum universitären Bereich.

Es geht darum, die Menschen zu bilden, also auch in den Schulen gemeinsam zu lernen. Die Projekte sind immer paritätisch besetzt. Das jüdisch-arabische Zentrum von Givat Haviva ist von großer Bedeutung, denn dort werden Projekte gemeinsam ausgedacht und umgesetzt.

Ruth Ratter

"Über das gemeinsame Tun bauen sie ihre Vorurteile ab"

Wichtig ist, dass junge Menschen, die noch nie miteinander in Berührung gekommen sind, weil sie in völlig getrennten Ortschaften wohnen, gemeinsam etwas tun. Über das gemeinsame Tun bauen sie ihre Vorurteile ab und können tatsächlich dann auch lernen, gegenseitig zuzuhören.

Es ist damit nicht immer das Ziel, dass man die Sichtweise des anderen übernimmt, sondern es geht darum, auch gegenteilige Meinungen stehen zu lassen, also Koexistenz zu lernen. Aber es entstehen auch Freundschaften darüber hinaus und es gibt Begegnungen, die auch ein Leben lang halten. Das ist genau das Ziel der Arbeit von Givat Haviva.

DOMRADIO.DE: Es gab ja schon früher immer wieder Gewaltausbrüche. Und Ihre Organisation hat dann immer versucht, eigentlich auf diese Gewalt mit noch mehr Versöhnungsarbeit zu reagieren...

Ratter: Ja, das ist richtig. 2021 zum Beispiel gab es einen Gewaltausbruch, dagegen sind Araber und Juden gemeinsam auf die Straße gegangen, allen voran Michal Sella, die Exekutivdirektorin von Givat Haviva. Die Demo stand unter dem Motto: "Araber und Juden weigern sich, Feinde zu sein". Und das ist, glaube ich, auch das Motto, mit dem Givat Haviva weiterarbeiten wird.

2021 demonstrierten u. a. Michal Sella (Direktorin von Givat Haviva)  unter dem Motto "Araber und Juden gegen Gewalt" gegen eine Eskalation der Gewalt in Israel und den Autonomie-Gebieten.  (privat)
2021 demonstrierten u. a. Michal Sella (Direktorin von Givat Haviva) unter dem Motto "Araber und Juden gegen Gewalt" gegen eine Eskalation der Gewalt in Israel und den Autonomie-Gebieten. / ( privat )

Sie müssen sich Givat Haviva als internationalen Treffpunkt, als Campus vorstellen, wo bis zu Hunderttausende pro Jahr hinkommen, die auch im Gespräch bleiben wollen, die miteinander diskutieren wollen. Und da ist man nicht immer einer Meinung. Aber dennoch ist das, was jetzt passiert ist, der Terror, die Eskalation von Gewalt, einfach nicht botmäßig, das kann man nicht zugestehen.

Und insofern gibt es jetzt eine große Solidarität. Aber es ist tatsächlich so, dass da, wo eben Kontakte bestehen, auch man versucht, gemeinsam nach vorne zu schauen und zu deeskalieren.

DOMRADIO.DE: Der gezeigte Hass der Hamas auf alles Jüdische ist ja wirklich schockierend. Dass sich Israel nun aktuell verteidigt, ist auch klar. Kann man jetzt schon über Versöhnung nachdenken oder ist es dafür noch zu früh?

Ratter: Sicherlich stehen aktuell alle unter Schock, aber man kann immer über Versöhnung nachdenken. Man muss immer darüber nachdenken und bereit sein, aufeinander zuzugehen. Dass man jetzt von Givat Haviva aus nicht gerade Hamas-Kämpfer einlädt, das ist völlig klar.

Ruth Ratter

"Sicherlich stehen aktuell alle unter Schock, aber man kann immer über Versöhnung nachdenken."

Aber es geht darum, eben auch Trost zu spenden, denn Opfer gibt es auf beiden Seiten und von daher ist es auch notwendig, dass man sich gegenseitig in der Trauer unterstützt.

Ich will Ihnen als Beispiel das Projekt "Shared Society" nennen. Das sind zwei Orte, die nebeneinander liegen, einer jüdisch, einer arabisch. Die sind bislang auf Verwaltungs-, auf Bürgermeister- und Bürgermeisterinnen-Ebene regelmäßig zusammengekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nach zwei Jahren des gemeinsamen Arbeitens, in denen gemeinsame Projekte umgesetzt werden, dann der Kontakt von jetzt auf gleich abbricht.

Israelische Feuerwehrleute löschen ein Feuer, nachdem eine Rakete auf einem Parkplatz in Aschkelon eingeschlagen ist. Nach massiven Angriffen aus dem palästinensischen Gazastreifen auf Israel hat die israelische Armee am Samstag den Kriegszustand erklärt / ©  Tsafrir Abayov/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (dpa)
Israelische Feuerwehrleute löschen ein Feuer, nachdem eine Rakete auf einem Parkplatz in Aschkelon eingeschlagen ist. Nach massiven Angriffen aus dem palästinensischen Gazastreifen auf Israel hat die israelische Armee am Samstag den Kriegszustand erklärt / © Tsafrir Abayov/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ ( dpa )

Die Leute haben die Erfahrung, dass man miteinander reden kann, dass man auch gemeinsame Dinge tut, dass man durchaus mehr Gemeinsamkeiten hat als Unterschiede. Das ist gerade bei jungen Leuten so, die die gleichen Klamotten tragen oder die gleiche Musik hören. Das wird man nicht alles aufgeben. Das heißt, ich bin fest davon überzeugt, dass die Leute auch wieder aufeinander zugehen lernen, aber jetzt fallen wir natürlich alle zuerst einmal in ein tiefes Loch. Und das zu überwinden, wird sich Givat Haviva sicher zur Aufgabe machen.

DOMRADIO.DE: Können Menschen vielleicht in Deutschland helfen, an der Versöhnung mitzuarbeiten? Wie wollen Sie als Förderverein mit dieser neuen, schrecklichen Situation umgehen?

Ratter: Für heute haben wir zu einer Solidaritätskundgebung nach Mainz eingeladen. Da geht es darum, zu bekunden, dass wir an die Leute vor Ort denken, dass wir in Gedanken bei ihnen sind. Darüber hinaus geht die Arbeit weiter.

Ich werde am kommenden Montag in einer Schule in Rostock unsere Ausstellung eröffnen. Wir werden versuchen, bei solchen Veranstaltungen auf die aktuelle Problematik hinzuweisen, aber eben auch Hoffnung zu säen, dass man tatsächlich den Leuten, denen es dort so schlecht im Moment geht, Unterstützung zukommen lässt.

Und man darf nicht vergessen, dass in Gaza ja nicht nur Hamas-Kämpfer sind, sondern dass es da auch Leute gibt, die hungern und Unterstützung brauchen. Insofern halte ich es für richtig, dass man dort humanitäre Hilfe leistet. Aber auch in Israel gibt es Menschen, die jetzt unsere Hilfe und Unterstützung brauchen. Wir versuchen Trost zu spenden, Mut zu machen, damit die Menschen wieder Hoffnung schöpfen.

Das Interview führte Mathias Peter.

Israelisches Sicherheitskabinett erklärt offiziell Kriegszustand

Israel befindet sich jetzt offiziell im Krieg. Das Sicherheitskabinett der israelischen Regierung hat Samstagnacht den Kriegszustand und die damit verbundene Einleitung militärischer Maßnahmen gebilligt, wie das israelische Regierungspressebüro am Sonntagnachmittag mitteilte.

Es beruft sich dabei auf Artikel 40 des israelischen Grundgesetzes. Dieses legt fest, dass der Beginn eines Kriegs oder entsprechender militärischer Operationen nur aufgrund eines Regierungsbeschlusses erfolgen dürfen.

Ein Gesamtbild der Zerstörung nach dem tödlichen Angriff auf eine Polizeistation in der Stadt Sderot am zweiten Tag des andauernden Konflikts zwischen Israel und der militanten palästinensischen Gruppe Hamas / © Ilia Yefimovich (dpa)
Ein Gesamtbild der Zerstörung nach dem tödlichen Angriff auf eine Polizeistation in der Stadt Sderot am zweiten Tag des andauernden Konflikts zwischen Israel und der militanten palästinensischen Gruppe Hamas / © Ilia Yefimovich ( dpa )

 

Quelle:
DR