An Kant scheiden sich die katholischen Geister

Kant und der Vatikan

Wer verstehen will, warum der Vatikan und die Deutschen sich manchmal nicht verstehen, findet vielleicht eine Erklärung in den Gedanken von Immanuel Kant. Moral war dem Philosophen stets wichtig. Und die Selbstbestimmung?

Autor/in:
Bernward Loheide
Blumen schmücken nach wie vor die Grabstelle von Immanuel Kant / © Andre Ballin (dpa)
Blumen schmücken nach wie vor die Grabstelle von Immanuel Kant / © Andre Ballin ( dpa )

Papst Franziskus und seine Kurienkardinäle blicken skeptisch auf den Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland. Das jüngste Treffen deutscher Bischöfe mit führenden Vertretern der Kurie hat daran nichts grundlegend geändert. Der Vatikan ist offenbar nach wie vor gegen die Einrichtung eines Synodalen Rates, in dem Bischöfe und Laien gemeinsam über wichtige innerkirchliche Fragen entscheiden.

Das Unverständnis auf beiden Seiten hat verschiedene Gründe. Es beruht nicht zuletzt auf einer unterschiedlichen theologischen Ausrichtung, die sich auf ein Datum vor 300 Jahren zurückführen lässt: Am 22. April 1724 wurde im preußischen Königsberg der Gründungsvater der modernen Philosophie geboren. Immanuel Kant hat in Deutschland auch theologisch tiefe Spuren hinterlassen, in den romanischen Ländern dagegen weniger.

Kategorischer Imperativ

Im Mittelpunkt seines Denkens steht die Freiheit des seiner selbst bewussten Subjekts. Menschenwürde und Menschenrechte begründet Kant nicht religiös mit Gott, sondern philosophisch mit der Vernunft und Selbstbestimmung des Ichs. Jeder Mensch hat demnach denselben Maßstab: seine unbedingte Freiheit als Gewissenspflicht, auch gegen die eigenen Interessen und Vorlieben moralisch zu handeln. Dieser kategorische Imperativ, jeden Menschen als "Zweck an sich selbst" anzuerkennen, verbietet jede Diskriminierung.

Symbolbild Kreuz auf einer Bibel / © kumpol.pijadee (shutterstock)
Symbolbild Kreuz auf einer Bibel / © kumpol.pijadee ( shutterstock )

Kants Autonomiedenken hat zur Entwicklung pluraler demokratischer Gesellschaften beigetragen und sich auch in der UN-Charta und im deutschen Grundgesetz niedergeschlagen. Viele Theologinnen und Theologen in Deutschland erkennen in diesem neuzeitlichen Ansatz eine große Nähe zum christlichen Glauben an Gott, der den Menschen als sein freies Gegenüber erschaffen und Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Gott habe die Selbstbestimmung der Menschen selbst dann noch bejaht, als sie seinen Sohn Jesus ans Kreuz schlugen.

Was ist Vernunft?

Viele Debatten des Synodalen Wegs waren und sind von diesem Freiheitsdenken geprägt. Kirchliche Kritiker in Rom und anderswo sehen im kantischen Ansatz einen Irrweg und mahnen: Der Mensch setze sich damit an die Stelle Gottes, statt auf die Offenbarung zu hören und Gottes Gnade in den Sakramenten der Kirche anzunehmen. "Die Wahrheit, die zu erkennen und zu befolgen ist, liegt der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen voraus", betonte etwa der Bonner Dogmatik-Professor Karl-Heinz Menke 2022 im "Vatican Magazin".

Gottesdienst bei der Fünften Synodalversammlung am 10. März 2023 in Frankfurt. / © Julia Steinbrecht (KNA)
Gottesdienst bei der Fünften Synodalversammlung am 10. März 2023 in Frankfurt. / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Nach dieser Lesart haben die moralischen Werte ohne den Glauben an Gott kein Fundament, sondern werden beliebig. Papst Benedikt XVI. hat dies 2011 im Deutschen Bundestag gesagt: Gott habe seinen Willen als objektive Vernunft in die Natur eingeschrieben. Alle staatlichen Gesetze und moralischen Normen müssten diesem Naturrecht folgen, um nicht im Relativismus zu landen. Auf dieser Linie liegen die römischen Bedenken gegen den Synodalen Weg.

Gott ist da

Eine mögliche Vermittlung zwischen Kantianern und Nicht-Kantianern bietet Kant selbst. Denn anders, als ihm oft nachgesagt wird, hat er die Metaphysik nicht für obsolet erklärt, sondern den Menschen auf Gott verwiesen gesehen. Laut seiner "Kritik der praktischen Vernunft" ist es "moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen". In der "Kritik der reinen Vernunft" hat er zwar die klassischen Gottesbeweise als Fehlschlüsse entlarvt, aber auch erklärt: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen."

Nach Überzeugung der Tübinger Theologie-Professorin Saskia Wendel lässt sich Freiheit auch in der Tradition Kants als eine verdankte, in Gott gründende Freiheit begreifen, "die offen ist für den Anspruch eines Unbedingten". Auch Magnus Striet, ein Hauptvertreter des theologischen Freiheitsdenkens im Gefolge Kants, stellt klar: Nicht der Mensch, sondern allein Gott ist "als der Ursprung der Gebote zu denken, denen der Mensch in eigener Autonomie entsprechen soll".

Diese Gebote verpflichten den Menschen kategorisch, also nicht beliebig nach Lust und Laune oder nach eigenem Gusto. Die kantische Gewissensfreiheit mündet also nicht in Relativismus, sondern pocht streng auf die Einhaltung moralischer Gebote, die universal für alle gelten. Sowohl für Konservative als auch für Liberale in der Kirche ist dieser Ansatz sehr attraktiv.

Quelle:
KNA