KNA: Papst Franziskus hat Sie vor einigen Monaten als Weihbischof in den Kardinalsstand erhoben - ein sehr außergewöhnlicher Vorgang. Wie hat der neue Titel Ihr Leben verändert?
Kardinal Gregorio Rosa Chavez (San Salvador): Einige Dinge sind in der Tat anders. Man ist näher am Papst und hat die Möglichkeit, sich direkt mit ihm auszutauschen. Zudem hat man als Kardinal eine stärkere Stimme im In- und Ausland. Das birgt freilich eine große Verantwortung.
KNA: Wie beurteilen Sie den Papstbesuch in Kolumbien, der vor einigen Tagen zu Ende gegangen ist: War seine Reise als Botschafter für den Frieden ein Erfolg?
Rosa Chavez: Ich bin beeindruckt von seiner Leistung. Der Papst hat aus dem Thema Kolumbien eine globale Frage entwickelt: Wie überwindet man einen Krieg so, dass es echten Frieden für die Menschen gibt? Eine Frage, die für verschiedene Länder in Lateinamerika von höchster Wichtigkeit ist. Er hat betont, dass man das Geschehene nicht vergessen darf. Die Wahrheit muss ans Licht. Ein Gefangensein in der Vergangenheit darf es aber ebenso wenig geben.
KNA: Wie lassen sich diese Ziele erreichen?
Rosa Chavez: Franziskus schlägt einen Weg vor, der auf seinen Vorgänger Johannes Paul II. zurückgeht: die "Reinigung des Gedächtnisses". Das Konzept beruht auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Verzeihung und Barmherzigkeit. Gerade die Barmherzigkeit ist ein ganz eigenes Thema von Papst Franziskus.
KNA: Der jahrzehntelange Bürgerkrieg in Kolumbien hat Hunderttausende Opfer gefordert und unzählige Wunden geschlagen, die bis heute nicht verheilt sind. Was sagen Sie den Betroffenen, die gar keine Versöhnung wollen?
Rosa Chavez: Ja, es gibt viele offene Wunden. Die globale Vision des Papstes sieht vor, den Kreislauf von Hass, Gewalt und Vergeltung zu durchbrechen - aber eben nicht einfach durch Vergessen, sondern indem man die Vergangenheit mit der Einstellung Jesu Christi betrachtet.
Dann kann Vergebung Wunden heilen. In Argentinien, dem Heimatland von Franziskus, aber auch in meiner Heimat El Salvador gibt es viele Menschen, deren Leid aus der Zeit der Militärdiktatur vergessen wurde. Das ist nicht gerecht. Deshalb ist es wichtig für Kolumbien, dass FARC-Guerilla-Anführer "Timochenko" öffentlich um Vergebung gebeten hat - den Papst und das ganze Land.
KNA: Franziskus hat in Kolumbien auch die Krise in Venezuela angesprochen. Was kann die Kirche konkret tun, um diesen Konflikt zu entschärfen?
Rosa Chavez: Ich kenne die Situation dort aus nächster Nähe. Die Kirche versucht, in enger Abstimmung mit dem Papst zu vermitteln. Doch der Dialog gestaltet sich sehr schwierig. Bis heute sind wichtige Voraussetzungen nicht erfüllt. Das Misstrauen und die brutale Gewalt im Land stehen einer Verständigung im Weg. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Bemühungen des Papstes erfolgreich sein werden. Wann das sein wird, kann ich nicht sagen.
KNA: In diesem Jahr jährt sich das Ende des Bürgerkriegs in El Salvador zum 25. Mal. Wie schätzen Sie die heutige Lage ein?
Rosa Chavez: Meine Heimat ist ein Land, das zwar Frieden hat, aber nicht in Frieden lebt. Es gibt viel Armut, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit. Ein großes Problem sind die kriminellen Jugendbanden. Jeden Tag fallen Menschen dieser grausamen Gewalt zum Opfer. In den vergangenen Monaten ist der Konflikt weiter eskaliert, weil die Gangs sich nicht nur untereinander bekriegen, sondern zunehmend Polizisten töten. Der Staat reagiert ebenfalls mit immer mehr Gewalt; das Land ist verzweifelt. Viele Salvadorianer wissen morgens beim Verlassen des Hauses nicht, ob sie wieder zurückkehren. Entführungen und Schutzgelderpressungen gehören zum Alltag.
KNA: Sehen Sie einen Ausweg?
Rosa Chavez: Repression ist jedenfalls keine Lösung. Gewalt ruft weitere Gewalt hervor. Es muss einen anderen Weg geben. Unsere Seelsorger versuchen, irgendwie das Herz der Gewalttäter zu erreichen, um sie zur Umkehr zu bewegen. Das ist allerdings nicht leicht, denn in den Banden gilt das Gesetz: Wer aussteigt, wird umgebracht. Ein zentraler Aspekt ist daher Prävention. Die müsste in den Familien geschehen - aber in El Salvador herrschen schlechte Voraussetzungen. Armut, erzwungene Migration und Instabilität haben viele Familien krank gemacht. Es muss uns gelingen, die Familie zu retten, um eine bessere Zukunft aufzubauen.
Das Interview führte Alexander Pitz.