Kardinal Lehmann zur Karlspreisverleihung und politischer Entwicklung

Mutiger Papst - pubertierende AfD

Anlässlich der Karlspreisverleihung an Papst Franziskus bezeichnet der Mainzer Kardinal Karl Lehmann dessen Gesten gegenüber Flüchtlingen als zukunftsweisend. Im Interview äußert er sich zudem zur europäischen Entwicklung und der AfD.

Kardinal Karl Lehmann / © Boris Roessler (dpa)
Kardinal Karl Lehmann / © Boris Roessler ( dpa )

Der diesjährige Karlspreisträger Papst Franziskus erinnert Europa nach Worten des Mainzer Kardinals Karl Lehmann an seine große Verantwortung für die Verteidigung der Menschenwürde. Die Gesten des Papstes gegenüber Flüchtlingen und an den Rand Gedrängten seien "keine Symbole, die sich in sich selber erschöpfen", sagte Lehmann im Interview der "Süddeutschen Zeitung". "Sie weisen in die Zukunft. Sie machen Mut."

Der Papst aus Argentinien habe "neuen Schwung, neue Offenheit gebracht", so der scheidende Mainzer Kardinal. Franziskus wende sich allen Menschen zu, "ob jung, alt, arm, reich, Mann, Frau, Christ oder Muslim".

Der Papst, der aus Lateinamerika und damit von außen komme, könne womöglich besser erkennen, wie gefährdet die Errungenschaften Europas seien, so Lehmann. "Er kann Europa daran erinnern, dass es eine Aufgabe in der Welt hat und dass wir dieser Aufgabe manchmal so schlecht nachkommen, dass wir schamrot werden müssten." In Europa herrschen Kleinmut und Ängstlichkeit, kritisierte der deutsche Kardinal. Vielleicht habe sich die EU "zu stark auf Wirtschaft und Handel konzentriert und zu wenig um die kulturelle und emotionale Verankerung des Europa-Gedankens bei den Bürgern" gekümmert.

Der argentinische Papst Franziskus erhält an diesem Freitag im Vatikan den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen für seine Verdienste um die europäische Einigung verliehen. Dazu sind unter anderen die Spitzen der EU sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach Rom gereist.

Geduld mit osteuropäischen Ländern

Die Europa-Idee sieht Kardinal Karl Lehmann keineswegs am Ende. Es brauche "Geduld" mit Ländern wie Polen, Ungarn oder Tschechien und "auch mit manchem Europaskeptiker", der "aus Frust heraus eine rechte Partei wählt", sagte der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Es sei ein Versäumnis, dass die EU "zu rasch zu viele Länder aufgenommen" habe.

Europa habe eine Aufgabe in der Welt, betonte der scheidende Mainzer Bischof; es komme dieser Aufgabe "manchmal so schlecht nach, dass wir schamrot werden müssten". Es herrschten Kleinmut und Ängstlichkeit. "Vielleicht hat sich diese Union doch zu stark auf Wirtschaft und Handel konzentriert und zu wenig auf die kulturelle und emotionale Verankerung des Europagedankens bei den Bürgern", so Lehmann.

Selbstkritik übte er an einem mangelnden Europa-Engagement der Kirchen; dies sei "eine Enttäuschung". Viele nationale Kirchen hätten "eine große Nähe zu den Auffassungen ihrer Regierungen" und sähen sich "wenig dem Ganzen verpflichtet". Der Kardinal weiter: "Unsere Stärke in Europa, auch gemeinsam mit den evangelischen und orthodoxen Kirchen, hat dadurch gelitten. Wir sind provinzieller geworden."

AfD in der Pubertät

In Bezug auf die Diskussionen um die AfD, sieht der scheidende Mainzer Kardinal die Partei noch in der Pubertät. Der Satz, der Islam gehöre "nicht zu Deutschland", sei "mit einem modernen Verfassungsverständnis unvereinbar", kritisierte Lehmann. "Wer Rassismus und Nationalismus propagiert, ist für mich als Christ nicht wählbar."

Hinter einer solchen Aussage macht der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz aber auch einen Protest aus, "der auf ein Defizit in der Debatte verweist". Lehmann kritisierte, es fehle "ein vernünftiger Begriff von Heimat und kultureller Identität". Es genüge nicht, "einfach multikulturellen Optimismus an den Tag zu legen oder sich ein Europa ohne nationale Eigenheiten vorzustellen". Zugleich habe er als Bischof in Gemeinden erlebt, wie die Flüchtlingskrise auch "positive Energie gebracht hat".

Neue Stunde der Theologie

In der gesellschaftlichen Debatte sieht Kardinal Lehmann inzwischen eine neue Stunde der Theologie gekommen. Derzeit kämen viele junge, selbstbewusste, fachlich hervorragende Theologen auf Lehrstühle, "die sich nicht den Mund verbieten lassen werden", so Lehmann. Die katholische Kirche der nächsten Generation werde eine Minderheit sein. "Aber von einem wachen Geist getragene Minderheiten können manchmal mehr verändern als schlappe Mehrheiten", so der Theologe, der sich vom Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) geprägt sieht.

Zu Forderungen aus dem deutschen Episkopat, dass sich Theologen stärker am kirchlichen Lehramt orientieren sollten, sagte Lehmann, dies seien "Debatten von vorgestern". Heute gehe es "vielmehr um die Frage, was wir in einer Welt zu sagen haben, der Glaube und Religion zunehmend fremd werden". Dazu gehörten Innehalten, Kontemplation und Gebet. Im Denken der Kirche brauche es eine Selbstbefragung: "Was machen wir da eigentlich?" Es brauche "die Fähigkeit zur Umkehr, politisch wie spirituell", so der Schüler des Konzilstheologen und Jesuiten Karl Rahner (1904-1984). "Wir brauchen Kraft, um neue Wege zu gehen, um etwas zu riskieren."

Flüchtlingskrise gibt "positive Energie"

Die Flüchtlingskrise gibt der deutschen Kirche nach Einschätzung Lehmanns "positive Energie". Jenseits von Kirchenaustritten kämen auch Menschen, die sagen: "Es interessiert und fasziniert mich, was ihr glaubt, denkt und tut", so Lehmann. Kürzlich sei ein "sehr erfolgreicher Banker" an ihn herangetreten und habe ihn nach einer Empfehlung für ein Kloster gefragt, um sein Leben "neu zu sortieren", so Lehmann. Nach dieser Zeit sei er nach eigenen Worten "ein neuer Mensch" gewesen.

Mit Blick auf die Flüchtlingskrise äußerte sich der deutsche Kardinal "stolz, wie viele Gemeinden sich engagieren". Er selbst und viele Pfarrer seiner Gemeinden machten die Erfahrung, dass Menschen zu ihnen kämen und sagten: "Da mache ich wieder mit." Lehmann wörtlich: "Es gibt in unserer Gesellschaft viele Spuren einer verborgenen Christlichkeit, viel mehr, als wir manchmal denken."

Angesprochen auf Austritte wegen der Haltung der Kirche gegenüber Flüchtlingen sagte der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz: "Die positiven Reaktionen überwiegen." Die Frage, wie wir in Deutschland Fremde aufnehmen, sei "jenseits aller politischen Debatten" zur Lösung der Flüchtlingskrise "ein Unterscheidungsmerkmal des Christlichen".


Quelle:
KNA