Normalerweise hätten sich am Donnerstag in München in der Katholischen Akademie mehr als 600 Menschen eingefunden. Beim Jahresempfang der Erzdiözese München und Freising hätten sie dicht gedrängt dem Festakt beigewohnt und dann in geselliger Atmosphäre den Austausch bei Speis und Trank im Garten gepflegt.
Doch dieser Termin war wie so vieles ein Opfer der Corona-Regelungen geworden. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx aber hatte dadurch Zeit, bei der ersten Veranstaltung des Hauses nach dem Lockdown über sein neues Buch "Freiheit" mit Direktor Achim Budde zu sprechen.
Dafür war im Vortragssaal mit Stühlen und Bistrotischen eine gemütliche, fast kabarettartige Atmosphäre für gut 60 Besucher gezaubert worden. Als er das Buch geschrieben habe, war es für Marx nach eigenen Worten undenkbar, die Gottesdienste der Kar- und Ostertage ohne Gemeinde feiern zu müssen. Doch nach wie vor stehe er zu der in dieser Zeit mit der Staatsregierung getroffenen Regelung. Schließlich sei es darum gegangen, jene zu schützen, die gefährdet seien.
Umdenken in Corona-Zeiten
Aber eine Messe in der Sakramentskapelle des Liebfrauendoms mit wenigen Leuten zu feiern, die für den Livestream abgefilmt wird, sei schon etwas völlig anderes gewesen. "Dafür war ein Umdenken nötig, nämlich sich zu sagen, ich spreche jetzt zu Menschen, die zu Hause auf dem Sofa sitzen."
Natürlich könne dies keine Dauerlösung sein, aber einen gewissen Reiz habe das Ganze durchaus gehabt, räumte der Kardinal ein. Wenn es gelungen sei, habe sich das am positiven Feedback der Gläubigen gezeigt - vor allem bei einem Gottesdienst für Kommunionkinder und ihre Familien.
Balance gefunden
Budde verwies auf die erzielte Reichweite. Die aber kommentierte Marx nüchtern: "Man weiß ja nicht, wie lange die dranbleiben." Erreicht worden seien mit solchen Angeboten vor allem die technikaffinen, jüngeren Menschen. Für die älteren Menschen aber hätten die aktiven Pfarreien andere Ideen entwickelt, um auch ihnen in diesen Zeiten nahe zu sein.
Die große Mehrheit sei bis heute der Meinung, so Marx, dass die richtige Balance gefunden worden sei. Natürlich habe das Herz geblutet bei der Einschränkung der Freiheitsrechte. Manchmal sei man nicht zufrieden gewesen, "dann haben wir an die Regierung geschrieben". Dies aber sei in einem Miteinander geschehen, bei dem die Kirche ihre Anliegen habe einbringen können und auch ihren Teil beigetragen habe, etwa durch Hygienekonzepte. Wichtig sei auch gewesen, dass bald der Mundschutz in der Kirche nicht mehr nötig war und die Beschränkung der Dauer auf eine Stunde fiel.
Wachsende Ungleichheiten
Welche Folgen Corona für die Gesellschaft haben wird? Marx sorgt sich wegen wachsender Ungleichheiten, wie er sagt. Wenn etwa deutlich werde, dass manche ihren Job für immer verloren hätten und ihre Lebenspläne endgültig nicht umsetzbar seien, könne es mehr soziale Spannungen geben, wovon unter Umständen auch wieder Populisten profitierten. Doch schon vor Corona habe es gebrodelt, und die Leute seien für ihre Rechte auf die Straßen gegangen. Bei allen Demonstrationen dürften auch Christen dabei gewesen sein, so Marx.
Freiheit ist nach Auffassung von Marx nicht einfach Autonomie: "Freiheit kann immer nur Freiheit mit anderen Freiheiten sein." Die Möglichkeit zur eigenen Entscheidung vollende sich darin, sich ohne Erpressung und Druck binden zu können. Dann lasse sich auch das Wort Jesu besser verstehen, wenn dieser sage, der Mensch müsse durch die enge Türe gehen. Ihm selbst sei da bewusst geworden: "Du möchtest ja auch nicht mit Leuten zu tun haben, die sich alle Türen offenhalten."
"Bin kein Draufgänger gewesen"
Das Thema begleitet Marx seit Jugendzeiten: "Ich bin jetzt kein Draufgänger gewesen; das glaubt man mir sowieso nicht." Doch in der Quarta des Gymnasiums sagte der Lateinlehrer eines Tages: "Marx, was ist mit Ihnen los?" Der Grund war eine freche Antwort. Irgendwie sei da bei ihm ein Knoten geplatzt. "Ich wusste, dass ich sportlich und vom Aussehen her die anderen nicht ausstechen konnte." Aber als Schülersprecher konnte er sein Talent entfalten.