domradio.de: Warum ist das Papst-Schreiben auch 50 Jahre später noch aktuell?
Kardinal Marx: Damals lag ja mit dem Kalten Krieg eine sehr brisante Situation vor, und die Kirche hatte durchaus einen festen Standpunkt gegen den Kommunismus. Und dann ein Wort zu wagen, das über die Blockaden hinausgeht, das neue Perspektiven eröffnet und einen neuen Horizont aufreißt, das ist Papst Johannes zwei Monate vor seinem Tod wirklich gelungen mit dieser Enzyklika. Sie stellt immer noch einen großen Text für die Friedensethik und überhaupt für die politischen Aussagen der Kirche dar. Deswegen ist es gut, dass wir uns 50 Jahre danach noch daran erinnern, denn wir brauchen ja aus kirchlicher Sicht immer wieder Positionen, die nicht einfach nur wiederholen, was immer schon gesagt wurde, sondern auch neue Perspektiven entwickeln. Ich würde für die Deutsche Bischofskonferenz sagen, dass der Text "Gerechter Friede" vor 13 Jahren auch ein solcher Versuch war, noch einmal darüber hinauszugehen und neue Antworten zu geben. Weil die Situation natürlich nicht mehr so ist, wie sie vor 50 Jahren war und wir neue Fragen und Herausforderungen haben.
domradio.de: In der Enzyklika heißt es unter anderem, dass „Streitigkeiten nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge und Verhandlungen beizulegen" seien. Doch die Erfahrung heute ist, dass es auch Grenzen der Diplomatie gibt. Vertrat Johannes XXIII. trotzdem einen radikalen Pazifismus?
Kardinal Marx: Nein. Ein radikaler Pazifismus würde ja bedeuten, dass Gewaltanwendung unter allen Umständen ausgeschlossen ist. Aber was er getan hat, und das war etwas Neues: Er hat im Grunde genommen den Stein herausgelöst aus dem Gebäude des "gerechten Krieges", so dass diese Perspektive eines "gerechten Krieges" hinter uns geblieben ist. Es gibt keinen gerechten Krieg, es gibt in extremen Situationen eine gerechtfertigte Gewaltanwendung, die aber verheerende Folgen hat, und die man dann auch verantwortlich aufarbeiten muss. Aber dass er an der Vorstellung eines "gerechten Krieges" gerüttelt hat, ist sehr wichtig. Von ihm wurde das das System des "gerechten Krieges" zum ersten Mal systematisch in Frage gestellt. Die Konfliktlösung auf diplomatischem Wege ist eigentlich immer die Lehre der Kirche gewesen. Gewaltanwendung war immer ultima ratio. Wir haben ja heute auch eine Entwicklung in der Politik, dass wir z.B. einen Konsens in der Völkerfamilie haben, dass dort, wo massenhaft Unrecht geschieht, möglicherweise um die Zivilbevölkerung zu schützen, ein militärisches Eingreifen notwendig ist. Aber wir haben im Irak, in Afghanistan, in Mali und anderswo gelernt, dass das nur ein erster Schritt sein kann. Die große Herausforderung kommt danach mit der Frage, wie man eine friedvolle und gerechte Gesellschaft miteinander aufbauen kann.
domradio.de: Kirchliche Friedensgruppen wie Pax Christi rufen immer wieder zur Gewaltlosigkeit auf und kritisieren die Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen. Das bringt nicht selten den Christen den Vorwurf ein, naiv im Umgang mit Gewalt zu sein. Wie kann denn die Kirche einen Mittelweg finden zwischen militärischer Hilfe und friedlicher Konfliktlösung?
Kardinal Marx: Es gibt keinen Mittelweg zwischen militärischer Hilfe und Konfliktlösung, kein entweder oder. Es muss zusammen gesehen werden. Es gibt die ultima ratio, aber das ist nur ein Element des gesamten Friedensweges, dazu gehört eben auch, gerechte Verhältnisse herzustellen und langfristig zu helfen. Das wird oft vernachlässigt, auch die Öffentlichkeit geht ja dann schnell wieder weg. Sobald die Kanonen aufgefahren werden und die Panzer rollen, sind alle Medien da. Aber sobald es dann darum geht, wirklich systematisch in einem Land zu helfen, damit es voran geht und damit die Konflikte aufgearbeitet und die Gewaltursachen beseitigt werden, sind alle mit ihrer Aufmerksamkeit schon weggewandert. Das erschüttert mich wirklich: Sobald Gewalt in der Welt passiert, sind alle Medien da, aber wenn die mühsame Alltagsarbeit des Friedensaufbaus beginnt, dann kommt nur sporadisch der ein oder andere, und die große Aufmerksamkeit ist weg.
domradio.de: Die heutige Veranstaltung wird unter anderem vom Katholischen Militärbischofsamt organisiert.In Berlin selbst sind die Katholiken in der Minderheit - wie stark nehmen denn die Politiker die kirchliche Haltung in Fragen von Krieg und Frieden überhaupt noch wahr?
Kardinal Marx: Ich glaube schon. Es gibt eine Offenheit in allen Bereichen, auch auf die Kirche zu schauen. Nicht, dass die Politiker nur auf unsere Stellungnahmen warten und diese dann umsetzen, aber gerade im Bereich des Militärs, in Fragen der Politik und der Wirtschaft erlebe ich, dass man interessiert und offen ist und die kirchliche Position vielleicht nicht direkt übernimmt, aber offen diskutiert, wenn sie gut begründet ist. Nicht viele andere Organisationen haben eine so systematische Friedensethik in den letzten Jahrzehnten aufgebaut, nicht viele waren immer wieder in den friedenspolitischen und ethischen Debatten präsent. Da freue ich mich auch über eine gute Zusammenarbeit zwischen dem Militärbischofsamt und der Kommission Justitia et Pax. Da gibt es keine Gegensätze mehr, sondern ein Miteinander und eine Offenheit für den Dialog. Das nehmen die Politiker durchaus wahr, die Veranstaltungen werden auch politisch durchaus registriert.
Das Interview führte Aurelia Rütters