Dabei habe das Land sein goldenes Zeitalter erlebt, als die Macht hauptsächlich in den Händen der Maroniten gelegen habe, beklagte das Oberhaupt der größten christlichen Kirche im Libanon laut einem Bericht der Zeitung "Orient le Jour" (Mittwoch) in einer Predigt vom Wochenende.
Mit der Marginalisierung der Rolle der Maroniten sei unterdessen die Einheit des Landes ins Wanken geraten. Als Patriarch der maronitischen Christen hat Rai eine gewichtige politische Stimme im Land. Das politische System im Libanon beruht seit der Unabhängigkeit 1943 auf einer Aufteilung der Macht unter den verschiedenen konfessionellen Gruppen des Landes. Der Staatspräsident ist jeweils maronitischer Christ, der Ministerpräsident ist Sunnit und Parlamentspräsident Schiit.
Kritik an der Hisbollah
Das Abkommen en von Taif, das 1989 den Bürgerkrieg beendete, bestätigte dies, übertrug aber einen Großteil der Exekutivgewalt vom Präsidenten auf die Regierung, was von vielen Christen im Land als eine Schwächung ihrer Rolle empfunden wurde. Seit dem Ausscheiden von Michel Aoun im Oktober 2022 ist zudem das Präsidentenamt unbesetzt.
Die unverzügliche Wahl eines Nachfolgers Aouns gehört zu den zentralen Forderungen Kardinal Rais an die libanesische Politik.
Beobachter werteten die jüngsten Aussagen Rais auch als Kritik an der Hisbollah. Der Kardinal mache sich zunehmend "zum Sprachrohr des wachsenden christlichen Unbehagens gegenüber (..) dem 'politischen Schiismus'", so die Zeitung. Seit Beginn der jüngsten Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hisbollah am 8. Oktober 2023 hatte Rai laut Bericht unter anderem eine Umsetzung der Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrates gefordert, die unter anderem die Entwaffnung aller bewaffneten Gruppen im Libanon vorsieht.