Handelsblatt: Viele Städte und Gemeinden klagen, dass sie mit der Aufnahme von Flüchtlingen heute schon überfordert sind. Hat Deutschland bereits genug getan, um das weltweite Flüchtlingselend zu lindern? Wie könnte eine größere Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland erreicht werden?
Woelki: Die Frage nach dem rechten Maß der Hilfe muss sich zuerst am Hilfesuchenden messen. Deutschland leistet Großes, aber die Not ist leider größer. Da kommen Menschen, die gewaltsam entwurzelt wurden, mit all ihrer Not, ihrer Angst, ihren äußeren und vor allem inneren Verletzungen. Umfragen ergeben, dass eine Mehrheit der Menschen in Deutschland die Flüchtlingshilfe klar bejaht und noch verstärken will. Ich bin dankbar für die Hilfsbereitschaft, die daraus spricht. Notwendig ist eine wirkliche Willkommenskultur. "Not sehen und handeln" ist der Leitspruch der Caritas, der sich hier bewährt. Dieses Handeln ist vielfältig und orientiert sich an der konkreten Not, die wir sehen: Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Traumatisierung, Perspektivlosigkeit. Da müssen wir ansetzen. Wenn wir eine solche Willkommenskultur schaffen wollen, dürfen wir aber auch die Aufnehmenden nicht vergessen. Es geht ja nicht bloß um ein Dach über dem Kopf. Wir müssen den Gemeinden, den Nachbarschaften, den vielen ehrenamtlichen Helfern helfen, damit das Ankommen der Flüchtlinge bei uns wirklich gelingt. Das reicht von der allgemeinen Akzeptanz für Flüchtlingsunterkünfte über menschenwürdige Unterbringung bis zu ganz konkreten Problemlösungen wie Sprachkurse, wie Gesundheitsvorsorge, wie Kinderbetreuung, wie materielle Sicherheit, also eine umfassende Unterstützung. Hier müssen wir mit viel Phantasie auch neue Wege gehen. Ich bin sicher, dass eine gemeinsame Anstrengung in diesem Sinne auch die Akzeptanz erhöht und dazu beiträgt, im Flüchtling den Mitmenschen zu sehen. Hier wollen wir uns auch und gerade als Kirche in die Pflicht nehmen lassen. Konkret: Jede Flüchtlingsunterkunft liegt in einer unserer Pfarreien und gehört damit zu deren Aufgabengebiet. Unser Glaube verpflichtet uns, Kontakt zu den Bewohnern dieser Heime aufzunehmen. Unsere Motivation dazu kommt mitten aus dem Evangelium: Ich war fremd, ich war obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen.
Handelsblatt: Welche Lehren müssen wir aus dem Skandal um die Misshandlung von Flüchtlingen in deutschen Asylbewerberheimen ziehen?
Woelki: Die bekannt gewordenen Misshandlungen sind ungeheuerlich, und es muss alles getan werden, dass sich so etwas nicht wiederholt. Vor allem muss jetzt sichergestellt und kontrolliert werden, dass die geltenden Vorschriften auch eingehalten werden. Für die Betreuung der Flüchtlinge brauchen wir genügend gutes Personal. Diese Leute brauchen natürlich zwingend ein Führungszeugnis und einen Sachkundenachweis. Unverzichtbar ist neben einer Ahnung davon, wie es Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund nach Verfolgungs, Kriegs und Fluchterlebnissen geht, auch ein gewisses Grundwissen, wie man angemessen darauf reagiert. Hier helfen nur Schulungen. Wie gesagt: Wir dürfen auch die Helfer nicht allein lassen, dann sind sie hilflos. Großunterkünfte, wie sie hauptsächlich in NRW zu finden sind, mit mehreren Hundert Menschen in psychischen Ausnahmesituationen, bergen generell Risiken. Großunterkünfte müssen die Ausnahme bleiben und auch nur für möglichst kurze Übergangszeiten.
Handelsblatt: Was halten Sie im Sinne der Betroffenen für die bessere Lösung – verstärkte Hilfe in Flüchtlingslagern vor Ort oder Aufnahme in Deutschland?
Woelki: Die meisten Flüchtlinge aus Syrien oder Irak beispielsweise bleiben doch in Nachbarländern wie Jordanien oder der Türkei. Nur die wenigsten schaffen ja den Weg bis zu uns. Diese Frage kann nur von den Hilfebedürftigen her beantwortet werden. Wenn in ihrem Land eine sichere Bleibe für sie geschaffen werden kann, wo sie vernünftig versorgt sind, wo sie nicht verfolgt werden, wo sie ohne Gefahr für Leib und Leben eine Perspektive haben, ist das eine gute, vielleicht die bessere Lösung. Die Caritas und andere Organisationen tun hier Vorbildliches. Niemand flieht doch ohne Not aus seiner Heimat, aber wenn es nicht gelingt, Sicherheit für die Menschen im eigenen Land zu gewährleisten, sind wir moralisch nach Kräften zur Hilfe und zur Aufnahme verpflichtet.
Handelsblatt: Welche Schwerpunkte müsste die europäische Flüchtlingspolitik aus Sicht der katholischen Kirche legen?
Woelki: Grundsätzlich halte ich eine Flüchtlingspolitik, die auf Abwehr oder gar Abschreckung setzt, für falsch. Wir können uns hier nicht selbstzufrieden abschotten und ausgerechnet die armen Staaten der Welt mit der Flüchtlingsproblematik allein lassen. Das potenziert die Probleme bloß. Flucht und Vertreibung sind leider Gottes eine Tatsache in der Welt, der wir uns stellen müssen. Zugleich müssen wir auf der Basis unseres Wertekanons von Menschenwürde und Freiheit mehr tun, um die Ursachen zu bekämpfen, auch in den Herkunftsländern. Hilfswerke wie Misereor oder Caritas international und andere, die Hilfe zur Selbsthilfe leisten, halte ich für den richtigen Weg. Dazu gehört ein ganzes Maßnahmenbündel auf allen Ebenen: Einsatz für Menschenrechte, politische Verhandlungen, humanitäre Hilfe, entschlossene Bekämpfung des Terrorismus, anwaltschaftliches Eintreten für Minderheiten und eine der Not angemessene Flüchtlingshilfe. Vor allem aber muss in diesen Ländern der Zugang zur Bildung für alle erschlossen werden, und wir müssen für weltweit gerechte wirtschaftliche Strukturen sorgen. Unser Lebensstil geht ja weithin einher mit der Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt.
Handelsblatt: Könnte eine bessere Flüchtlingspolitik auch den Schlepperbanden das Handwerk legen?
Woelki: Wenn Menschen auf Schlepper angewiesen sind, um sich in Sicherheit zu bringen, dann sagt das auch etwas aus über unsere, das heißt die europäische Aufnahmebereitschaft oder eher das Gegenteil davon. Wir müssen alles dafür tun, dass die Menschen auf der Flucht Hilfe erhalten und zwar nicht durch die, die mit der Angst und Not Geld verdienen. Wir können nicht einfach zusehen, wie die Menschen in riesigen Lagern vegetieren, sondern müssen legale Wege schaffen, auf denen sie Schutz in Deutschland und Europa finden. Maßstab muss immer die Menschenwürde sein. Sie ist unteilbar und gilt auch für jeden Flüchtling. Maßstab für all unser Handeln ist die Menschenwürde, die gemäß unserem Evangelium für alle gilt.
Erzbischof Rainer Maria Kardinal sprach für dieses Interview mit Redakteuren des Handelsblattes, mit dessen freundlicher Genehmigung domradio.de das Interview hier veröffentlicht.