"Ein Schock, schlicht und ergreifend ein Schock", beschreibt Jörg Sieger das Gefühl, das ihm beim ersten Mal vor der Kreuzigungsszene des berühmten Isenheimer Altars befiel; es befällt den Karlsruher Pfarrer noch heute, wenn er den gemarterten Leib des Gekreuzigten betrachtet: "Es ist nicht einfach der sterbende Christus, nicht irgendeine schöne Gestalt. Es ist ein Toter, ein Geschundener - mit Striemen, Wunden und Beulen übersät." Der auf diese drastische Weise präsentierte Körper Christi wirke zunächst abstoßend; er konfrontiere mit einer Art des Leidens, die bis dahin noch nie so dargestellt worden war. Dass der Isenheimer Altar ein künstlerisches Kleinod ist, sieht natürlich auch Pfarrer Sieger so; er hat sich sein Leben lang mit den Tafelbildern beschäftigt und plädiert dafür, sie in ihrer ganzen Dimension zu begreifen – aus dem zeitgeschichtlichen und theologischen Kontext heraus.
Denn als der Maler Matthias Grünewald den Altar in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (1512-1516) schuf, tat er das im Auftrag der Antoniter in Isenheim im Elsass. "Die Antoniter kümmerten sich um unheilbar Kranke, die in die Ordensgemeinschaft aufgenommen wurden. Im Grunde war das eine Art Hospiz", erklärt Sieger. Die ersten Adressaten des Altars waren demnach todgeweihte Menschen, denen der Künstler in seinen Retabel-Bildern Wege wies, mit Schmerz und Leid umzugehen.
Keine historische Darstellung
Dass es Grünewald nicht um eine getreue Darstellung des historischen Kreuzigungsgeschehens gegangen sein kann, meint Sieger weiter, beweise schon die Anwesenheit Johannes des Täufers auf dem Bild. Schließlich war Johannes zum Zeitpunkt der Kreuzigung längst tot. Auf dem Altarbild aber weist er mit überproportional großem Zeigefinger auf den geschundenen Christus.
Überhaupt, so der kunstliebende Geistliche weiter, spiele die Sprache der Hände auf dem Bild eine zentrale Rolle. So verkrampfe die auf die Knie gesunkene Maria Magdalena die ineinander verschränkten Finger, sie ringe mit den Händen und der aussichtslosen Situation des Todes und verkörpere so die Nicht-Akzeptanz des Sterbens. Ganz anders dagegen Maria, die Mutter Jesu, die die Hände einfach ineinander legt. Das interpretiert Jörg Sieger als Zeichen des Annehmens.
Die Hand als Botschaft
Die theologische Botschaft, so Sieger weiter, liege hier also im Wortsinn auf der Hand: Auch Jesus hat seine Todesqualen angenommen und bringt sie Gott dar; indem er dies tut, wird er zum Vorbild für alle Menschen. Auf nichts Anderes deute der überdimensionierte Finger des Täufers hin, meint Pfarrer Sieger und schlägt gedanklich noch einmal die Brücke zu den Sterbenskranken im Hospiz der Antoniter.
Wenn sie diesen so extrem leidenden Christus am Kreuz sahen, sprach der Zeige-Gestus des Johannes direkt zu jedem einzelnen von ihnen, als wolle er sagen: "Das ist einer, der wie du ist; so wie du jetzt hier bist. Leidend, sterbend, tot. Du kannst dich mit ihm identifizieren!"
Die Menschen im Antoniterkloster damals werden genau wie ihre Zeitgenossen diese Symbole ohne weiteres verstanden haben. Dass der Isenheimer Altar - heute im Musée D’Unterlinden in Colmar ausgestellt – auch Leute von heute so stark berührt, erklärt der Pfarrer der Erzdiözese Freiburg mit der universellen Sprache der Bilder: "Und die Frage nach dem Leid und wie ich mit meinem Leid umgehen kann, ist genauso eine zeitlose und universelle Frage; weil sie Menschen immer wieder aufs Neue beschäftigt."
Die Botschaft bleibt aktuell
So bleibe die Botschaft des Isenheimer Altars letztlich genau die gleiche, die Jesus mit seinem Leiden und seiner Auferstehung gegeben habe: "Ich nehme dich mit hinein in das Geschehen der Kreuzigung, aber genauso in das gesamte Geschehen der Heilsgeschichte bis hin zur Auferstehung." Und so schaurig geschunden der Gekreuzigte auf dem Isenheimer Altarbild erscheint, so atemberaubend strahlend entschwebt der Auferstandene auf der Rückseite dem Grab. Das, sagt Pfarrer Jörg Sieger, ist nicht nur unsere Hoffnung; das ist die große Verheißung des Christentums. Und auch die des Isenheimer Altars.