DOMRADIO.DE: Schwester Antonia, "Klöster gehören zu den gegenwärtig notwendigsten Orten der Welt". Mit diesem Statement ließ Abt Gregory Polan, der Abtprimas der Benediktiner, kurz nach seiner Wahl 2016 aufhorchen. Könnte dieser Satz auch von Ihnen stammen? Und wenn ja, warum?
Dr. M. Antonia Sondermann (Karmelitin, Privatdozentin und Mitgründerin des Karmel St. Elia Seligenthal): Wenn der Akzent auf "die Not wendend" liegt, dann könnte ich das durchaus unterschreiben. Klöster sind Orte, an denen die Not der Welt vor Gott getragen wird. Klöster sind Kraftquellen, an denen Gottes Gegenwart für Menschen erfahrbar wird. An diesen Orten hat das Gebet als gelebte Beziehung zwischen Gott und Mensch oberste Priorität.
Das Gebet verstehe ich als lebendigen Dialog mit Gott, in dem wir lernen, Gottes Wort in uns aufleuchten zu lassen; in dem wir ihm alles hinhalten und in dem alles zur Sprache kommt, was uns ausmacht, im Herzen bewegt und was an Ohnmacht, Not, Leid und Anliegen an uns herangetragen wird. Das wird von den Menschen als "not-wendig" im eigentlichen Sinne erlebt.
Entscheidend ist der Galube daran, dass das Gebet die Kraft hat, die Not in der Welt zu lindern. Hier besteht eine Spannung zwischen dem, was man der Freiheit des Menschen und der Erhörung durch Gott zuschreibt. Damit stellt sich gleichzeitig auch die Theodizee-Frage: Warum erhört Gott mich nicht in meinem Leid?
Das ist eine sehr schwierige Thematik wie überhaupt die Frage nach dem Bösen, der Schuld in der Welt, der Verzweiflung, die Menschen erleben – gerade jetzt angesichts der vielfältigen Kriege. Klöster sind in diesem Kontext Orte, an denen das Leid gemeinsam mit den Menschen ausgehalten wird, ihm eine Sprache geben und es Gott in der Hoffnung hinhalten – Gebet ist immer ein Ausdruck von Hoffnung – dass es etwas Größeres gibt als das Leid: nämlich einen liebenden Gott, der sich den Menschen in ihrem Leiden zuwendet.
DOMRADIO.DE: Viele Ordensgemeinschaften werden heute totgesagt oder stehen zumindest doch wegen unaufhaltsamer Überalterung in einer großen Umbruchsituation. Überleben werden sie nur, wenn sie rechtzeitig den Brückenschlag von Spiritualität, Gemeinschaft und Lebensnähe schaffen, um für Nachwuchs zu sorgen und auch für die eigene wirtschaftliche Auskömmlichkeit. Das jedenfalls ist Ihre persönliche Überzeugung, soll die kontemplative Lebensform zukunftsfähig bleiben…
Sr. M. Antonia: Wir haben uns bei der Gründung unseres Klosters gefragt, was die wesentlichen Elemente des Ordenslebens sind, auf die man in der heutigen Zeit nicht verzichten darf. Den Anstoß dazu hat das Konzilsdekret "Perfectae caritatis" des Zweiten Vatikanischen Konzils gegeben, mit dem alle Orden ermutigt wurden, sich auf die eigenen Wurzeln zu besinnen und zu fragen, was wirklich essentiell für ihre Berufung ist, damit sie zu einer echten Erneuerung fähig sind. Auch meine Mitschwester und ich haben uns einem solchen Unterscheidungsprozess gestellt, um herauszufinden, was unabänderliche Elemente und was sekundäre äußere Rahmenbedingungen – gewissermaßen Stellschrauben – sind, an denen man durchaus drehen kann.
Festgestellt haben wir, dass die Eucharistie für uns als Herzstück unserer Regel wesentlich ist, weil von ihr Gemeinschaft ausgeht. Dann ist für uns der Aspekt "Einsam in Gemeinschaft" ganz wichtig, weil wir vom Ursprung her eigentlich ein Eremitenorden sind. Das heißt, wir leben semi-eremitisch. Zu unserer Lebensform gehören Elemente, die sehr viel Individualität ermöglichen, aber eben auch Gemeinschaftsleben. Wir haben die Korrektur, das Miteinander und die Nähe durch die Gemeinschaft, aber wir haben durch die persönlichen Zeiten des Gebetes, durch die Freiheit der individuellen Tagesgestaltung sowie die Freiheit der Berufswahl auch die Möglichkeit, das geistliche Leben individuell zu gestalten.
In der Gemeinschaft verbindet uns natürlich die gemeinsame Spiritualität des Karmel, die auf dem Vorbild und der Person der Gottesmutter und des Propheten Elia gründet, also auf dem Hören auf Gott in der Einsamkeit, aber auch auf dem kämpferisch mutigen Eintreten – dem Eifern, wie es bei uns im Orden heißt – für Gott. Beide Elemente – das Hören auf Gottes Wort, das ich im Herzen trage und das ich wie Maria immer hin- und herbewege, dann aber auch dieses durchaus nach außen Gewandt-Sein, diese sichtbare Leidenschaft – das sind für mich die Bedingungen für Zukunftsfähigkeit.
DOMRADIO.DE: Sie haben 20 Jahre im Kölner Karmel gelebt, sich dann aber 2019 noch einmal für einen Neuanfang zusammen mit Ihrer Mitschwester Maria Magdalena Höppener in Seligenthal am Rande von Siegburg entschieden. Warum?
Sr. M. Antonia: In der Gründung vom Karmel St. Elia haben wir die Chance gesehen, der Sehnsucht unserer Berufung neu nachzugehen und sie gewissermaßen noch einmal so auszudrücken, dass sie zukunftsfähig wird, das heißt, als eine Kombination von kontemplativem und tätigem Leben an einem Ort, der sowohl abgelegen ist als auch die Nähe zu den Menschen ermöglicht; ein Ort, an dem wir unser Charisma leben und durch die Liturgie ausstrahlen können. Ein Beispiel: Wir pflegen in unseren Gottesdiensten den gregorianischen Choral, der eine musikalische lebendige Interpretation und Verkündigung des Wortes Gottes ist. Dazu sind alle eingeladen.
Wer heute in ein kontemplatives oder monastisches Kloster eintreten will, kommt mit persönlichen Gaben und Fähigkeiten, die er auch einbringen möchte. Doch welche Berufe sind mit einem kontemplativen Leben vereinbar? Die früheren Finanzierungsmodelle klösterlichen Lebens – Spenden, Mitgiften, Renten – sind in Auflösung begriffen, daher gilt es, auf den Heiligen Geist zu hören, um nicht der Gefahr zu erliegen, ein System aufrechtzuerhalten, das wirtschaftlich und geistlich nicht den Erfordernissen der heutigen Zeit entspricht.
Geistliches Leben muss auch auf einer wirtschaftlich gesunden Basis stehen. Schon Benedikt von Nursia, der Vater des Abendländischen Mönchtums, wies in seiner Regel auf die Gefahr der Betriebsblindheit hin, indem er betonte, dass der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist. Was will Gott uns mit den jungen Menschen sagen, die er in unsere Klöster beruft?
DOMRADIO.DE: Wie ist da Ihr Selbstverständnis? Immerhin sind Sie selbst habilitierte Wissenschaftlerin mit Lehraufträgen…
Sr. M. Antonia: Junge Ordensfrauen sollten heute berufstätig sein, zunächst, damit sie ihre persönlichen Charismen entfalten können, dann aber auch, damit sie sich verantwortlich für das wirtschaftliche Auskommen als reife, in der Gesellschaft fundierte Frauen in die Gemeinschaft eines Ordens einbringen können. Das sorgt für ein ganz anderes Standing, mehr Öffnung und eine viel größere Sensibilität für die Nöte der Gesellschaft und auch die eines Berufsalltags.
Das wirkt sich auch positiv auf das geistliche Leben aus, weil ich mit einem Mal aus eigener Anschauung erlebe, wie sich konkrete Probleme mit dem Vorgesetzten anfühlen oder was Stress im Beruf bedeutet. Solche Erfahrungen in ein geistliches Leben zu integrieren, ist eine große Herausforderung.
Die individuelle Gestaltung des geistlichen Lebens bezeichnet man im monastischen Leben als idiorhythmisch. Das ist etwas, was sich in der Ostkirche bis heute erhalten hat, aber was das Ordenswesen im Westen mit seinen Ausdifferenzierungen so nicht kennt. Die Tagesstruktur ist festgelegt und wird vorgegeben. Dabei müssten berufstätige Ordensleute die Möglichkeit haben, den Tagesrhythmus selbst wählen bzw. anpassen zu können, das heißt, eine gewisse Flexibilität im geistlichen Leben zu haben.
Das wiederum setzt aber eine bestimmte Reife voraus, denn das höhere Maß an Eigenverantwortung birgt sowohl Chancen als auch Gefahren. Ich muss schließlich der Einzelnen in der Gemeinschaft vertrauen, dass ihre Sehnsucht, in der Nachfolge Christi zu leben, so stark ist, dass sie diese Lebensform tatsächlich auch umsetzt.
DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie heute aus der Retrospektive Ihren Neuanfang vor fast sechs Jahren? Das Verhältnis von Einsamkeit und Gemeinschaft, das jahrhundertelang festgeschrieben schien, mussten Sie ja zunächst einmal neu für sich austarieren. Sie leben in Seligenthal sehr für sich, wollen aber gleichzeitig auch als ein spiritueller Ort wahrgenommen werden und ausstrahlen. Ist das nicht ein Spagat?
Sr. M. Antonia: Das Verhältnis von Einsamkeit und Gemeinschaft bleibt immer ein Spagat genauso wie das Verhältnis von Berufstätigkeit und geistlichem Leben. Aber das ist etwas, was typisch ist für den Karmel – übrigens auch für den männlichen Zweig unseres Ordens, der bereits im 13. Jahrhundert entstanden ist: ein Leben der persönlichen Gottesbeziehung und ein Leben in Stille, die nicht um ihrer selbst willen gesucht wird, sondern nur die Voraussetzung dafür ist, um wirklich für die Wahrnehmung Gottes im eigenen Leben sensibel zu werden. Dieses Leben in der Gegenwart Gottes – das soll im Grunde alles umschließen und durchdringen. Und deshalb ist es dann auch wieder kein Spagat, obwohl es ein Spagat ist.
Teresa von Ávila bringt das gut auf den Punkt, wenn sie sagt, dass Gott auch inmitten der Kochtöpfe gegenwärtig ist. Obgleich es bestimmte exklusive Zeiten gibt, die ich nur für Gott reserviere, sollen sie meinen ganzen Alltag prägen. Ob mir das letztlich gelingt – an manchen Tagen ist es leichter, an anderen schwerer – steht allerdings nicht in meiner Macht, sondern ist Gnade.
Wenn ich körperlich im Garten arbeite, ist mein Geist frei und kann sich auf Gott ausrichten. Anders ist es, während ich am Computer sitze und eine Vorlesung vorbereite, dann kann ich Gott vorher diese Zeit schenken, muss mich aber auf die jeweilige Aufgabe konzentrieren. Wichtig ist dabei die geistliche Grundhaltung, aus der heraus ich meinen Alltag gestalte, indem ich versuche, bewusst in der Gegenwart Gottes zu leben. Genau darin liegt die Chance dieser Lebensform. Und das macht letztlich froh und schenkt Erfüllung.
DOMRADIO.DE: In unserer modernen Wohlstandsgesellschaft, in denen Biografien komplexer geworden sind, die unterschiedlichsten Lebensentwürfe möglich scheinen, mutet ein Leben, wie Sie es führen, wie aus der Zeit gefallen an. Ist monastisches Leben in einem Frauenorden mit seinen strengen Regeln nicht das Gegenteil von Wertschätzung weiblicher Individualität und die Auslebung gottgeschenkter Gaben? Was macht daran den besonderen Reiz für Sie aus?
Sr. M. Antonia: Gaben und Charismen werden der Einzelnen nie für sich alleine gegeben, sondern für die Ordensgemeinschaft im Kleinen und die Kirche bzw. die Gesellschaft im Großen. Mit unserem Entwurf monastischen Lebens wollen wir dem Rechnung tragen. Früher kam dem Individuum in Klöstern mit vielen Mitgliedern natürlicherweise kein großer Stellenwert zu, weil vieles unpersönlicher gehandhabt wurde und aufgrund der Größe der Gemeinschaft auch mehr Regelungsbedarf bestand. Darin spiegelte sich auch der Main-Stream einer anderen Epoche wider.
Heute leben wir bewusst in einer familiären, kleinen Gemeinschaft, in der die Einzelne einen hohen Stellenwert hat und ihr eine andere Wertschätzung zuteil wird. Darin liegt zugleich eine Chance wie eine Herausforderung, denn der Berufung der Einzelnen kommt für das Gesamte, für das Funktionieren der Gemeinschaft, eine viel größere Bedeutung zu.
Deshalb ist uns auch sehr wichtig, die Frau in ihren Fähigkeiten, Charismen und Gaben, die sie von Gott für die Gemeinschaft geschenkt bekommen hat, zu sehen, und das, was sie mitbringt, zu fördern und zur Entfaltung zu bringen. Wenn sie sich damit ins Gemeinschaftsleben einbringen kann, kommt es zu Synergieeffekten und zur Verlebendigung des geistlichen Lebens. Es wird fruchtbar, erfüllend und einladend für andere, indem es Nachfolge Christi als einen Weg zur Freude weist.
DOMRADIO.DE: Mit der Postulantin Ira Jansen, die seit Februar mit Ihnen zusammen im Seligenthaler Pfarrhaus lebt, ist ihre geistliche Gemeinschaft nun gewachsen. Sie führen ein Leben allein unter Frauen, bei dem jede weitgehend für sich bleibt und auch einen Beruf ausübt – was wollen Sie der Welt mit Ihrem Glaubens- und Lebenszeugnis sichtbar machen?
Sr. M. Antonia: Mit unserer Lebensform möchten wir zeigen, dass es in der Welt noch andere Werte gibt und dass es sich lohnt, Gott im Leben die höchste Priorität einzuräumen. Wenn ich aus dieser Haltung heraus mein Leben gestalte, dann relativiert sich vieles. Ich spüre, dass diese Form der Nachfolge Christi ein Weg ist, der mich wirklich innerlich erfüllt. In Gesprächen mit Menschen stelle ich oft fest, dass da eine große innere Sehnsucht ist: ein Ausgebrannt-Sein oder das Empfinden, dass es nicht alles ist, jeden Tag vor dem Fernseher zu sitzen und sich vom Stress und der Hektik des Alltags bestimmen oder treiben zu lassen.
Ich nehme viel Sehnsucht nach Stille, nach mehr Innerlichkeit und nach einer persönlichen Gottesbeziehung wahr. Und ich darf Suchbewegungen begleiten: Wo finde ich Gott überhaupt noch im Alltag? Da werden wir um Orientierung und um Hilfestellung angefragt. Andere erleben unser Lebensweise – und das meine ich positiv – als Herausforderung; als etwas, an dem man durchaus Anstoß nimmt und was einen in keinem Fall gleichgültig lässt. Natürlich werden wir angefragt: Warum lebt Ihr so?
In der Theologie würde man das ein eschatologisches Zeichen nennen: Ich verweise mit meinem Leben auf einen höheren Sinn und darauf, dass ich ein Leben aus dem Glauben heraus führen und ganz für Gott leben will. Ich stelle immer wieder fest, dass unsere Lebensform – zum Beispiel auch bei interreligiösen Begegnungen – durchaus mit Respekt wahrgenommen wird und zum Nachdenken anregt.
Aber das muss man wollen. Wir haben kein Privatleben im eigentlichen Sinne. Wenn ich den Weg der Nachfolge gehe, heißt das auch ein bewusstes Ja zu einem öffentlichen Zeugnis. Das ist manchmal nicht leicht, weil ich zunehmend merke, dass die Hoffnung und der Glaube, aus denen heraus ich lebe, nicht mehr verstanden werden. Das heißt, die Akzeptanz dieser Lebensform in der Gesellschaft ist stark zurückgegangen. Umso mehr muss ich mich auch Fragen stellen und bereit sein, mich herausfordern zu lassen.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie noch einmal auf den Anfang Ihrer Berufung schauen – hat sich mit der Gründung des Karmel St. Elia erfüllt, was Sie sich ursprünglich einmal erträumt haben? Und welche Hoffnung treibt Sie dabei an?
Sr. M. Antonia: Ja, ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Ich würde mir wünschen, dass wir mit unserem Entwurf des Ordenslebens viele junge Menschen, speziell junge Frauen, erreichen: dass sie die Möglichkeit haben, an einer solchen Lebensform zu sehen wie schön es ist, Jesus nachzufolgen, aber auch für sich selbst die Option einmal prüfen – da gibt es ja auch Angebote "auf Zeit" – um überhaupt mal zu schauen: Ist das vielleicht ein Weg für mich? Das heißt, ich habe die Hoffnung, dass wir mit unserem Lebensentwurf kontemplatives Leben in die Zukunft führen können.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.