Stadtdekanat Stuttgart: Sie haben vergangenen März das Konklave miterleben dürfen, das ist auch der Grund für die Verschiebung Ihrer Geburtstagsfeierlichkeiten. Ihr Lebensmittelpunkt ist nach wie vor Rom, dort hatten Sie zwischenzeitlich vermehrt Gelegenheit, den neuen Papst in seinem frischen Amt zu treffen. Was würden Sie, ganz persönlich, sagen, zeichnet den Beginn seiner Amtszeit aus?
Kardinal Kasper: Ich kenne den früheren Kardinal Bergoglio schon von einigen Besuchen, die ich in Buenos Aires gemacht habe. Er war bei seinem Klerus und beim Volk sehr angesehen. Er ist ein Mann, der auf die Menschen zugeht. Der aber auch weiß, was das Leben ist, der Ahnung hat vom Leben und der einen unmittelbaren Zugang zum Menschen hat und diesen auch sucht. Deshalb will er nicht in das päpstliche Appartement hineinziehen, sondern unten im Gästehaus St. Martha bleiben. Er will bei den Menschen sein, orientiert sein. Das ist sein ganz wesentlicher Punkt. Ein zweiter wesentlicher Punkt ist, dass er Wert legt auf Armut und Einfachheit. Das kommt daher, dass er von einer Kirche der Armen kommt. Er lebt authentisch das, was er sagt. Und das überzeugt die Menschen, dass er das lebt und sehr einfach lebt. All diesen barocken Pomp, auch den höfischen Stil, das lehnt er ab. Und ich muss sagen, das tut einem auch gut, dass es weg ist. Das passt nicht mehr in unsere Zeit hinein. Und als drittes würde ich noch sagen, er bringt sicher die Anliegen der südlichen Hemisphäre in die Tagesordnung ein. Er bringt also auch einen Themenwechsel. Das ist ganz sicher. Die Kirche der Armen und für die Armen. Die ganzen wirtschaftlichen Probleme, die sozialethischen internationalen Probleme hängen damit zusammen. Das Problem der Gerechtigkeit in der Welt und vieles andere. Das wird er auf die Tagesordnung setzen. Ich denke, das tut uns Europäern dann auch gut. Wir haben zum Teil Luxusprobleme. Die haben ganz andere Probleme. Da geht es um das nackte Überleben. Und er war schon immer in den Slums in Buenos Aires, es sind ja riesige Slums dort, ist dort präsent gewesen - und das ist ihm ein großes Anliegen und daran wird er uns erinnern. Aber das ist auch etwas Evangeliumsgemäßes. "Selig sind die Armen“, sagt Jesus in den Seligpreisungen. Es war vorgestern noch das Evangelium, das wir gehört haben in der Werktagsmesse. Das sind die Dinge, die er bringen wird, sagen wird und ich glaube, wir brauchen Frischluftzufuhr und Frischblutzufuhr vom Süden.
Stadtdekanat Stuttgart: Und würde das dann auch ganz konkret die Strukturdebatten betreffen, die wir vielerorts führen?
Kardinal Kasper: Ja, die Strukturdebatten müssen natürlich sein, in dem Sinn, dass wir auch viele Strukturen abbauen müssen, weil wir zu viele haben. An dem kommen wir nicht vorbei, aber die Strukturen sind immer an zweiter Stelle. Die Sache des Evangeliums, das zu leben, ist die erste, das überzeugt auch die Menschen, die nicht so oft in die Kirche kommen. Die Strukturdebatten, das sind Insiderprobleme, da dürfen wir uns nichts vormachen, als ob wir die Menschen überzeugen könnten mit diesen innerkirchlichen Debatten, die wir machen müssen, aber wir müssen nach außen wirken. Das ist auch ein Anliegen des Papstes, an die Peripherie des Lebens zu gehen, zu den Menschen, die in dieser Peripherie leben, die gibt es auch in Stuttgart. Die gibt es überall. Also diese Sachen überzeugen dann. Das andere muss gemacht werden. Strukturen, ich sag so viel wie nötig, aber Inhalt so viel wie möglich.
Stadtdekanat Stuttgart: Ein Sprung zurück nach Rom. Bei seinem ersten Angelus-Gebet hat Franziskus lobend und nachdrücklich Ihr Buch über die Barmherzigkeit erwähnt. Arbeiten Sie derzeit über weiteren Projekten in diese Richtung? Was sind die theologischen Anliegen, die Sie derzeit drängend bewegen?
Kardinal Kasper: Das Problem der Barmherzigkeit hat mich sehr bewegt und zwar deshalb: Ich wollte mal einen ganzen Exerzitienkurs machen und dort über die Barmherzigkeit einen Vortrag machen. Der ist mir überhaupt nicht gelungen. Dann habe ich gelesen, Bücher, die ich so habe, und nichts Gescheites gefunden. Dann habe ich jahrelang gesucht und zusammengetragen und gemerkt, Mensch, das kann ja nicht wahr sein, dass in der Theologie über Barmherzigkeit so wenig gesprochen wird, in der Heiligen Schrift ist das zentral. Und zwar schon im Alten Testament, bei den Psalmen kommt es dauernd vor, bei den Propheten und überall. Dann bin ich der Sache nachgegangen, bei Jesus ist es ganz zentral, beim barmherzigen Vater und in ähnlichen Gleichnissen, die es da gibt. Ich meine, das ist ein wichtiges Thema, dass Gott barmherzig ist, dass man immer kommen kann, dass wir barmherzig mit unseren Mitmenschen umgehen sollen, wir alle sind ja auch darauf angewiesen, barmherzige Mitmenschen zu haben. – Das braucht jeder Mensch. Insofern ist es, glaube ich, ein ganz wichtiges Thema für die Glaubwürdigkeit und für das Wirken der Kirche. Und dem Papst war das ganz zentral. Ich habe ihm das Buch gegeben, da war er noch nicht Papst, es ist grad auf Spanisch erschienen, und ich habe dann gesagt: "Ich habe da ein Buch für Sie auf Spanisch.“ Er hat es dann gelesen und hat gleich gesagt „Questo il nome del nostro dio“ – Barmherzigkeit ist der Name unseres Gottes. Das war ihm wichtig, er hat es auch mehrfach gesagt. Es ist nicht ohne Folge geblieben. Das haben mir eine ganze Reihe von Pfarrern in Rom erzählt, dass dieses Jahr an Ostern merklich mehr Leute zum Sakrament der Buße gekommen sind, warum? Weil der Papst von der Barmherzigkeit gesprochen hat. Das waren Leute, die seit Jahren nicht mehr gekommen sind. Das zeigt nicht nur eine äußere Begeisterung für den Papst, wenn einer nach Jahren wieder zur Beichte kommt. Das ist schon eine Entscheidung, einfach ein Thema, das Menschen berührt. Daran habe ich jetzt ein paar Jahre lang gearbeitet nach den anderen größeren Büchern. Momentan bin ich an einem anderen Thema: „Die Zukunft des Christentums in Europa“. In der Welt, da wächst das Christentum, das ist unglaublich. Ich war jetzt in Korea in einer Gemeinde und habe die Messe am Sonntag gehalten. 450 Neutaufen an Ostern. Wo gibt es so etwas Ähnliches auch nur bei uns in Deutschland? Da sagt man, wie Viele ausgetreten sind. Europa ist momentan die Schwachstelle. Westeuropa vor allem. Und da muss man sich überlegen, was ist da los und was ist die Zukunft. Hier in Europa ist ja auch die Wurzel des Christentums, wenn die Wurzel, wo es gewachsen ist, schwach in der Welt wird, dann hat das Nachteile für die ganze Welt und deshalb sind wir auch um der andern Willen verpflichtet, uns da zu sputen und uns da etwas einfallen zu lassen.
Stadtdekanat Stuttgart: Wenn die schärfste Trennung die ist, Wachstum auf der einen Seite und Rückgang auf der anderen, was brauchen wir dann in Europa, um zukunftsfähig zu bleiben oder vielleicht auch wieder mehr zu werden?
Kardinal Kasper: Das ist der Punkt, wo ich Probleme habe mit manchen Anliegen, die hier so geäußert werden. Ich sage nicht, dass das keine Probleme sind, aber das Grundproblem ist die Gottesfrage, dass es irgendwie Gott gibt. Nehmen wir das ernst, dass es Gott ist? Dass Leben von ihm kommt, dass ich vor ihm verantwortlich bin? Ich denke, in dieser säkularisierten Welt, die meint, sie kann alles organisieren, selber machen, kommt man ja dann schon wieder an Grenzen, wenn man schwer krank wird oder beim Sterben. Das aufzubrechen, das können wir nicht nur allein durch Argumente - im Leben deutlich zu machen, dass das etwas bedeutet, an Gott zu glauben oder nicht zu glauben. Diese Differenz, das ist eine Grundfrage für mich, ob wir das wieder hinkriegen und damit etwas gegensteuern zu dieser Säkularisierungswelle, die wir haben, in den letzten 20, 30 Jahren hier in Europa.
Stadtdekanat Stuttgart: Vor dem Hintergrund Ihrer ehemaligen Funktion als Präsident des Rates zur Förderung der Einheit der Christen bestehen ganz viele internationale Beziehungen und geschlossene Freundschaften weiter. Stehen Ihnen in näherer Zukunft Reisen und Wiedersehen ins Haus, die auf diese Arbeit zurückgehen?
Kardinal Kasper: Ich mache das, was ich allen Pfarrern, die in Ruhestand gegangen sind, geraten habe: Macht weiter die Augen und die Ohren auf, aber macht den Mund zu. Man soll nicht dem Nachfolger hineinreden. Das tue ich nicht. Aber natürlich: Die Ökumene ist mir ans Herz gewachsen. Sie ist ja auch ein Grundanliegen und - vor allem hier in Deutschland - natürlich ein praktisches Grundanliegen. Mein Anliegen während der zehn Jahre, wo ich zuständig war, war schon Vertrauen und Freundschaft zu wecken. Sie können einen noch so bescheidenen Dialog vergessen, wenn das nicht da ist. Deshalb bin ich auch viel gereist und habe all die Kirchen vor Ort besucht, die man bei uns nicht so findet. Bei uns gibt es katholisch und evangelisch. Aber weltweit bestehen natürlich viele Freikirchen, auch die Orthodoxen und die altorientalischen Kirchen. Das ist ein ganz breites Spektrum und ich muss sagen, das war eine sehr bereichernde Erfahrung für mich, vor Ort mit ihnen zu sprechen, zu essen, zu trinken, das muss man auch - und gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Und da hoffe ich, dass da schon etwas geblieben ist. Ich denke, es geht ja auch auf der normalen Gemeindeebene ganz ordentlich und normal weiter, da will niemand hinter die Entwicklungen zurück. Auch in Rom nicht, auch der neue Papst nicht. Der hat in Argentinien sehr viel Kontakt mit den Lutheranern dort gehabt, mit den Orthodoxen und vor allem mit den Juden. Also ist er da offen. Aber auf der offiziellen Dialogebene sind momentan gewisse Schwierigkeiten. Das ist nicht eine Katastrophe, dieses Auf und Ab gibt’s ja immer im Leben. Da sind wir momentan in einer schwierigen Phase sowohl mit den traditionell Evangelischen, was man hier als Lutheraner und Reformierte bezeichnet, wie mit den Orthodoxen gibt es momentan gewisse schwierige Phasen des Dialogs. Wir hoffen ja auf das Jahr 2017, doch noch einen Schritt weiterzukommen. Es ist auch wieder mehr Offenheit von evangelischer Seite da. Also ich sehe dem nicht mit Pessimismus entgegen. Aber man muss wieder dorthin zurückgehen, wo man angefangen hat in der Ökumene, das waren kleine Gruppen und Freundschaften - und von dorther muss es wachsen. Man kann nicht erwarten, dass das alles von Rom her kommt, wie der Tau, der am Morgen alles belebt, sondern es muss von unten wachsen und dann kann es oben zusammengeführt werden. Wenn ich zurück denke an meine Jugend, wie es da war und was wir nun haben, da soll mir niemand sagen, wir hätten keine Fortschritte gemacht. Da ist viel in Bewegung geraten und wird auch weiter in Bewegung sein.
Das Interview führte Veronica Pohl
(Stadtdekanat Stuttgart)