DOMRADIO.DE: Was war das denn für ein politischer Tag gestern? Trump wird in den USA gewählt und am Abend platzt die Koalition in Deutschland. Wie schätzen Sie die politische Lage aktuell ein?
Andreas Püttmann (katholischer Politologe, Publizist): Es war ein symptomatischer Tag für die Krise der liberalen Demokratie. Wir müssen das also in einen größeren Zusammenhang stellen. In der ganzen westlichen Welt gibt es einen Zuwachs rechtsradikaler Parteien. Es gibt, je nach Wahlsystem, zunehmende Schwierigkeiten, dagegen funktionsfähige, ideologisch einigermaßen kompatible demokratische Regierungen zu bilden. Im nächsten Bundestag könnten die Putin-nahen Randparteien nach jetzigen Umfragen von 15 auf 30 Prozent der Sitze anwachsen.
Mit Trump steht auch die NATO-Bündnistreue infrage, ja sogar das politische System der USA, wenn man Äußerungen von ihm und die MAGA-Agenda ernst nimmt. In so einer Situation nun auch noch in Deutschland eine Phase der Regierungsinstabilität auszulösen, während ein schrecklicher Krieg in Europa tobt, der größte seit dem Zweiten Weltkrieg, ist staatspolitisch höchst fragwürdig. Eine dramatische Koinzidenz von Krisen.
DOMRADIO.DE: Ist es nicht gefährlich, in dieser Lage die Koalition platzen zu lassen? Was wäre da aus Ihrer Sicht jetzt wichtig?
Püttmann: So dürfte auch der Rückzug von Herrn Wissing aus der FDP motiviert sein: dass staatspolitische Verantwortung für ihn Vorrang hat gegenüber dem parlamentarischen Überlebenskampf der FDP. Ich interpretiere das Agieren von Herrn Lindner und seiner Partei so, dass ihnen die Wahlergebnisse von Sachsen, Thüringen und Brandenburg noch in den Knochen stecken, wo man um die 1 Prozent der Stimmen erreicht hat. Bei der Europawahl ist man auch nur knapp über 5 Prozent gelandet, dank einer populären Spitzenkandidatin.
Mir scheint, dass die FDP hofft, die Stimmen ihrer rechtsliberalen Wähler, die sie verloren hat an AfD und Union, vor der Wahl zurückzugewinnen. Ich habe schon 2021 vorausgesagt, dass die Koalition nicht die ganze Legislaturperiode erfüllen wird, sondern dass in dieser “artfremden” Koalition von divergierenden ideologischen Strömungen alle erheblich Federn lassen werden, und dass die FDP als kleinster Partner, wenn sie von der Fünf-Prozent-Hürde bedroht ist, nervös wird und die Reißleine ziehen wird. Genauso ist es jetzt gekommen.
DOMRADIO.DE: Wobei Bundeskanzler Olaf Scholz Finanzminister Lindner herausgeschmissen hat. War das nicht fahrlässig, jetzt die Ampel aufzulösen?
Püttmann: Herr Lindner hat ja zuerst ein Papier zu einem grundlegenden Politikwechsel vorgelegt, im Stile des Lambsdorff-Papiers, das zum Bruch der sozialliberalen Koalition führte. Vorher schon hat die FDP mehrfach Vereinbarungen nachträglich wieder infrage gestellt. Die Nervosität in der Partei, auch abzulesen an den Blutgrätschen von Herrn Kubicki, ist doch sehr offenkundig. Ich bin ziemlich sicher, dass Herr Lindner schon nicht mehr mit der Absicht in die Gespräche gegangen ist, die Ampelkoalition zu retten, sondern nur nach einem Ausstiegsszenario suchte, bei dem die FDP nicht mit dem schwarzen Peter des Koalitionsbruchs weg geht.
Ich bezweifele also stark, dass die FDP nach dem milliardenschweren Zugeständnis von Herrn Habeck betreffend den Haushalt überhaupt noch den Willen zur Einigung, zum Kompromiss, hatte. Stattdessen denkt sie vor allem daran, wieder in den nächsten Bundestag zu kommen. Und sie meinte, als Ampelpartei würde sie das keinesfalls erreichen.
DOMRADIO.DE: Der Bundeskanzler hat angekündigt, mit CDU-Chef Merz über eine Zusammenarbeit zu sprechen. Muss die CDU nun staatspolitische Verantwortung übernehmen?
Püttmann: Das sollte sie. Es ist von Scholz natürlich geschickt, den Zeitpunkt der Vertrauensfrage auf später zu legen und zu sagen "Wir haben hier noch einige wichtige Gesetze abzuarbeiten." Dadurch führt er einerseits vor, dass die Union nicht in der Lage ist zu einem konstruktiven Misstrauensvotum, weil Herr Merz keine demokratische Mehrheit im Bundestag zustande bringt. Das ist schon mal für die Union unangenehm. Zum anderen ist die Versuchung jetzt groß, wenn es länger dauert, dass Union und FDP selbst Gesetze einbringen und dann möglicherweise die Situation eintritt, dass die AfD zustimmt wie bereits unter der Minderheitsregierung in Thüringen geschehen.
Wenn es sich um als dringlich empfundene Herzensanliegen von Union und FDP handelt, die man staatspolitisch begründet, besteht die Gefahr, dass man das Versprechen der Brandmauer doch brechen wird mit der Begründung, AfD-Zustimmung sei ja noch keine Zusammenarbeit. Es ist eine schwierige Situation für die Union, das weiß Scholz auch. Und in dieser Situation wäre es vernünftiger, dass man jetzt eine Art Kenia-Light-Kooperation auf Zeit miteinander eingeht. Der Bundespräsident hat nach der gescheiterten Vertrauensfrage 21 Tage Zeit, um den Bundestag aufzulösen. Dann muss erst nach 60 Tagen die Wahl stattgefunden haben, das wäre Ende März, wenn der Fahrplan so bleibt.
DOMRADIO.DE: Was könnte denn in der Zwischenzeit da alles noch passieren?
Püttmann: Im Bundestag können Gesetze verabschiedet werden. Indem sich die größte Oppositionspartei durch Söders Ausschluss der Grünen als Koalitionspartner und Merz’ Gerede vom "Hauptgegner" auf eine große Koalition festgelegt hat, ist ihre "Beinfreiheit" nun begrenzt. Die Partei, mit der man zusammenarbeiten muss nach der nächsten Bundestagswahl, ist im Moment in der Regierung. Da ist es gar nicht so leicht zu begründen, dass man sich nun total verweigert gegenüber einem absehbaren Partner, mit dem man nach der Wahl koalieren muss. Insofern steht die Unionsführung nun vor einer taktischen Herausforderung, wenn sie sich nicht vor den Wahlen selbst desavouieren will.
Im Wahlkampf streitet jede Ampel-Partei für sich, mit eigenem Profil. Meine Prognose ist, dass ihre Prozentsätze dabei in den Umfragen wieder steigen werden. Die Ampel steht nicht mehr zur Wahl, sondern jede einzelne Partei. Da muss die Union sehr aufpassen, dass sie nicht wieder unter 30 Prozent rutscht. Sie hat sowieso am Wahltag häufig schlechter abgeschnitten als in den Umfragen zuvor. Und ihr Kanzlerkandidat ist nicht sonderlich populär, nicht mal in der eigenen Anhängerschaft.
Das Interview führte Tim Helssen.