DOMRADIO.DE: Schauen wir auf die Zahlen: 22 Millionen Menschen sind noch Mitglied in der katholischen Kirche, über 97 Prozent sind nicht ausgetreten. Meinen Sie, dass diese Menschen trotz aller Skandale dahinterstehen?
Dr. Andreas Püttmann (Politikwissenschaftler und katholischer Publizist): Nein, sehr viele stehen im Wesentlichen nicht hinter den Glaubensinhalten des Christentums.
Umfragen zeigen schon seit vielen Jahren, dass nicht mal der Glaube an Gott von auch nur annähernd allen Katholiken geteilt wird, noch weniger der Glaube an einen persönlichen Gott wie den der Bibel oder an Jesus Christus als Sohn Gottes.
Daran zu glauben, sagen in Deutschlands Bevölkerung laut Allensbach nur 35 Prozent, bei rund 50 Prozent Kirchenmitgliedern. Ungefähr ein Drittel der eingeschriebenen Christen teilt überhaupt keine Kernaussagen des christlichen Credos.
An die Auferstehung, mit der nach Paulus der gesamte Glaube steht und fällt, vermögen nur 24 Prozent der Deutschen zu glauben, also grad mal die Hälfte der Kirchenmitglieder.
Wenn man sich das vor Augen führt, muss man nicht erklären, warum jedes Jahr so viele austreten, sondern warum so wenige austreten.
DOMRADIO.DE: Warum bleiben die anderen in der Kirche, wenn sie nicht hinter den Botschaften der Vereinigung stehen?
Püttmann: Auch das kann man demoskopisch recht gut identifizieren. Sie bleiben aus Familientradition und um wesentliche Lebensetappen wie Geburt, Hochzeit oder Begräbnis zeremoniell würdig zu gestalten. Sie bleiben, weil sie die Caritas oder die Wertebildung durch die Kirche unverzichtbar finden oder weil sie kirchliche Räume der Ruhe und Weltdistanz schätzen, quasi als ein Stück Gegenwelt, die der totalen Ökonomisierung und der puren Zweckrationalität unserer Zivilisation widersteht.
Sie bleiben auch, weil sie unter Gläubigen angenehme Gemeinschaft finden. Ein kleinerer Teil bleibt auch in der Kirche, weil er dort beruflich beschäftigt ist oder wegen sonstiger sozialer Konformität, ein anderer aus Bequemlichkeit gegenüber dem Austrittsverfahren.
Es gibt also mannigfache Gründe zu bleiben. Einige sind eher profaner Art, andere hängen mit seelischen Grundbedürfnissen zusammen oder schlicht mit der Scheu vor der amtlichen Besiegelung eines Sinnvakuums.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben wir aber Religionsunterricht, wir haben Kommunionkatechese, Firmkatechese. Also es gibt ja tatsächlich die institutionellen Wege, um auch junge Leute an Glauben heranzuführen. Wo hakt es da? Warum kriegt die Kirche das nicht hin, das zu vermitteln?
Püttmann: Zunächst sollte man sich Religionsunterricht und Katechese nicht wie einen Nürnberger Trichter vorstellen, wo man oben etwas reinstopft und unten kommt Glaube heraus. Glaube ist nur sehr begrenzt kognitiv machbar.
Und im Übrigen sind zwei Stunden Religionsunterricht pro Woche wenig gegenüber anderen Einflüssen, unter denen junge Menschen viele Stunden pro Woche stehen, etwa dem Einfluss des Elternhauses, der Freundeskreise, der Medien und vielem mehr. Dagegen ist eine religiöse Minimalbildung in Schule oder Kommunionunterricht kaum wirkungsmächtig.
Natürlich wird auch der Religionsunterricht nicht immer gleich gut erteilt. Es gibt auch persönliche Sympathien und Antipathien gegenüber Religionslehrern, Klerikern oder anderen Mitmenschen, die das Christentum und die Kirche vertreten.
Nicht zuletzt gibt es vielfach einen gravierenden Dissens im Bereich der Sexualität, den man nicht unterschätzen sollte, denn dies ist ein wichtiges Thema für viele Menschen, bei dem die katholische Kirche konträr zu dem steht, was heute als menschengemäß betrachtet wird.
Den Widerspruch kann auch kein Religionsunterricht einfach auflösen.
DOMRADIO.DE: Aber drehen wir das doch mal positiv: Wir haben eine große Zahl von Menschen, die Mitglieder in den Kirchen sind und nicht austreten, die also noch einen Bezugspunkt haben. Und wir haben institutionelle Ansatzpunkte wie den Religionsunterricht. Ist das nicht positiv gesprochen auch eine Möglichkeit, an Leute noch heranzukommen? Wenn man es wirklich ernst nimmt, zu begeistern?
Püttmann: Ja, gewiss bleiben positive Anknüpfungspunkte. Die Kirche muss eine "Geh-hin-Kirche" bleiben, die ihre Kontaktmöglichkeiten, ihre Kommunikationskanäle optimal nutzt und da anknüpft, wo mit Kirche noch Positives verbunden wird.
Zum Beispiel in der Rolle als Bildungsträger, wo sie immer noch ein gutes Image hat. Kirchliche Schulen sind ja nach wie vor gefragt, auch kirchliche Akademien werden geschätzt und genutzt, um öffentliche Diskurse zu führen.
Ferner bleibt Kirche ein anerkannter Kulturträger mit schöner Kirchenmusik, Architektur und Kunst, in deren Präsentation man theologische Botschaften einflechten kann. Bindungskraft entfalten auch Gemeinschaftserfahrungen und die soziale Arbeit für Bedürftige oder Menschen in speziellen Nöten, wo die Kirche als „Kümmererin“ auftritt. Das ist ja auch eine ihrer Grunddimensionen: die Diakonia.
All das imponiert durchaus heute noch. Etwa ihre Beiträge zur Flüchtlingshilfe, die auch im tendenziell kirchenkritischen linken politischen Spektrum geschätzt wurden.
Anziehend wirken auch Klöster als Gegenwelten der Entschleunigung, der mentalen Stabilität und der Gemeinschaft. Da beobachte ich oft eine hohe Faszination. Auch die globale Rolle der Kirche in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, der Friedensarbeit, dem interreligiösen Dialog sollte man nicht unterschätzen.
Und nicht zuletzt punktet sie dort, wo sie Qualität bei den Casualien abliefert. Die Kirche kann es sich heute nicht mehr leisten, Taufen, Kommunionfeiern, Hochzeiten oder Begräbnisse schludrig oder bloß routiniert abzuspulen, sondern muss wirklich beste Qualitätsarbeit leisten, gerade auch weil sie hier vielen Menschen begegnet, die nicht üblicherweise am Sonntag im Gottesdienst sind. Bei den Casualien ist da gleichsam eine Visitenkarte abzugeben.
DOMRADIO.DE: Auch wenn noch rund 26 Prozent der Deutschen Katholikinnen und Katholiken sind, die Missbrauchsskandale und die schleppende Aufarbeitung treiben auch engagierte Mitglieder in den Austritt. Wie kann man das Vertrauen in die Kirche wieder stärken?
Püttmann: Die Missbrauchsskandale schlagen in der der Tat schwer ins Kontor des Vertrauens. Der katholischen Kirche vertrauen laut Forsa noch zwölf Prozent der Bevölkerung, dem Islam acht Prozent, der evangelischen Kirche 33 Prozent. Angesichts von fünf Prozent der Priester, die hier auffällig wurden, reicht die Entfremdung nun bis in Kerngemeinden hinein.
Da hilft nur eine ehrliche, gründliche, schonungslose Aufarbeitung – wobei die Diözesen besser gemeinsam vorgegangen wären, statt alle paar Monate mit der nächsten Bistumsstudie wieder bundesweit zu empören, bis nach einer jahrelangen Skandalkaskade Menschen, die Kirche nur über Medienberichte wahrnehmen, mit ihr nur noch Missbrauch verbinden.
Zweitens braucht es Konsequenz in Prävention, Sanktionen und der Bearbeitung struktureller Ursachen. Letztere beschäftigen nun besonders den Synodalen Weg. Alle möglichen Begünstigungsfaktoren von Missbrauch müssen unter die Lupe genommen und bearbeitet werden. Dabei darf es aber nicht darum gehen, eine der aktuellen Gesellschaft gefügige Kirche zu schaffen, die alle Anstößigkeit verliert und sich einer marktwirtschaftlichen Logik verschreibt, in der die Nachfrage das Angebot bestimmt. Oder einer demokratischen Logik, in der die aktuelle Mehrheit in einem Land bestimmt, was Kirche dort zu verkündigen hat.
Ich halte es auch für falsch, Vertrauen quasi strategisch schaffen zu wollen. Es muss sich von selbst einstellen als Frucht der Treue zum Evangelium, als Resonanz auf eine authentische, demütige, kluge und menschenfreundliche Kirche. Wo man dann trotzdem anstößig bleibt, gilt es das tapfer auszuhalten.
Ein nach irdischem Maßstab scheiterndes Christentum wäre nicht dessen Widerlegung, sondern ist Teil der christlichen Lehre selbst. Die durchchristianisierte Volkskirchen-Gesellschaft wird in der Bibel nicht als Normalfall christlicher Existenz prophezeit.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.