Menschen erzählen Geschichten vom Gehen und Kommen

Welle der Kirchenaustritte hält an

Im vergangenen Jahr hat die katholische Kirche so viele Mitglieder verloren wie nie. Inzwischen kehren ihr auch manche "100-Prozentigen" den Rücken. Wer geht? Und gibt es noch jemanden, der kommt?

Autor/in:
Karin Wollschläger, Michael Althaus und Joachim Heinz
Ein Priester betritt eine Kirche / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Ein Priester betritt eine Kirche / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

Mitte Juli 2021 sitzen Caroline Zerwas und ihr Mann Martin beim Notar, um ihren Austritt aus der katholischen Kirche zu vollziehen. "Das war der Schlusspunkt eines langen Prozesses", sagt die 46-Jährige.

Der nicht enden wollende Missbrauchsskandal, aber auch eine Christmette im Kölner Dom, bei der sie Kardinal Rainer Maria Woelki als "völlig entrückt" empfand, gaben letztlich den Ausschlag. Die Geschichte ihre Entfremdung von der Kirche reicht aber weiter zurück, wie die Mutter dreier Kinder erzählt.

Aufgewachsen ist sie in Ostfriesland, in der katholischen Diaspora.

Zusammenhalt und Gemeinschaft prägten das Gemeindeleben. "Ich habe meine Kindheit in der Kirche verbracht." In Rott, einem kleinen Ort südlich von Aachen, wo die Familie seit einigen Jahren lebt, ist davon nicht mehr viel übrig. Die Pfarrei St. Antonius gehört zur Großgemeinde Aachen-Kornelimünster/Roetgen: Zwei Geistliche betreuen vierzehn Dörfer und neun Pfarreien.

Pfarrer – was ist das?

"Da kommt der Pfarrer einmal im Monat zur Messe", fasst Caroline Zerwas die Lage zusammen. Als ihre Kinder Anton, Mathilde und Emil zur Erstkommunion gehen, engagiert sie sich jeweils in der Vorbereitung. Dass ihr Einsatz von offizieller Stelle einmal gewürdigt worden wäre, ist ihr nicht erinnerlich. Erinnern kann sie sich hingegen an ein Gespräch, von dem ihr die Mutter eines anderen Kommunionkindes berichtete. Kind: "Macht die Caro dann auch die Erstkommunionfeier?" Mutter: "Nee, dafür brauchen wir einen Pfarrer." Kind: "Was ist das?"

Dass Frauen nicht zum Priesteramt zugelassen werden: Damit könne sie leben, sagt Caroline Zerwas. "Aber lasst Priester doch bitte heiraten, dass sie ein bisschen mehr im Leben stehen. Woran klammert man sich da? Das ist so gestrig das Ganze." Zugleich betont sie, dass die katholische Kirche ihre Heimat bleibe. Ein zwiespältiges Gefühl ist das, vergleichbar dem, was sich bei alten Kirchenliedern einstellt. "Die Musik ist toll, aber wenn man die Texte liest, rollen sich einem die Fußnägel auf."

Kirchensteuer ist nicht der Grund

Nach ihrem Austritt bekam Zerwas, die sich bei Gottesdiensten auch schon mal an die Orgel setzte, Post von der Gemeinde. In dem Brief wurde unter anderem aufgezählt, was durch die Kirchensteuer finanziert wird. "Kirchenmusik – ok, habe ich lange Jahre selbst gemacht. Kindergärten – ja, das tut mir leid, aber ich habe keine Kinder mehr im Kindergartenalter. Jugendarbeit – findet hier sowieso kaum mehr statt."

Es geht ihr, das betont sie, nicht darum, die Kirchensteuer zu sparen. Aber wie sonst solle man seinen Unmut über das bekunden, was Kirche ist beziehungsweise nicht mehr ist? Im Alltag sind Fragen von Glaube und Religion nicht abgemeldet, sagt Caroline Zerwas dann noch und berichtet von einem Abend kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges.

Die Familie saß bei Kerzenschein zusammen "und wir waren alle ein bisschen ratlos". Sie komme sich vor wie an Weihnachten oder in der Osternacht, meinte Tochter Mathilde. Da meldete sich der zwölfjährige Emil zu Wort: "Am besten beten wir jetzt, dann ist man doch getröstet."

Kirche ist anders als in den Medien dargestellt

Kay Zander ist einer von 1.465 Menschen, die im vergangenen Jahr neu in die Kirche eintraten – nach einer längeren Bedenkzeit. "Ich habe mich mein Leben lang für geistige und spirituelle Dinge interessiert", sagt der 62-jährige Hamburger. Er wurde als Kind evangelisch getauft und konfirmiert, verließ aber mit Mitte 20 die Kirche. Mit der Lehre von einem strafenden Gott, die ihm sein Gemeindepastor damals vermittelte, konnte er nichts anfangen. "Das war mir alles zu duster."

Danach ging er auf die Suche und begann vor einigen Jahren, sich auch mit der katholischen Kirche zu beschäftigen. Unter anderem las er die Lehrschreiben "Deus caritas est" (Gott ist die Liebe) des früheren Papstes Benedikt XVI. "Dabei habe ich festgestellt, dass die Kirche ganz anders ist, als sie in den Medien dargestellt wird." Natürlich störe ihn der Missbrauchsskandal, und natürlich sei er der Meinung, dass es Reformen geben müsse. "Aber die Kirche besitzt einen spirituellen Schatz, den sie noch viel weiter öffnen müsste. Die großen Fragen unserer Zeit sind dieselben wie vor 2.000 Jahren", ist Zander überzeugt. So belegte er einen halbjährigen Glaubenskurs und entschied sich für den Kircheneintritt – obwohl niemand in seinem Verwandten- und Bekanntenkreis kirchlich engagiert ist.

Geistige Heimat gefunden

Erstkommunion und Firmung hat der Neu-Katholik im vergangenen Jahr absolviert. Regelmäßig besucht er die Gottesdienste im Hamburger Mariendom. Inzwischen ist der Kaufmann auch in einer benachbarten religiösen Buchhandlung mit halber Stelle beschäftigt. "Ich habe in der katholischen Kirche eine geistige Heimat gefunden", sagt er.

Philipp Wilde hat es indes wie Caroline Zerwas und rund 360.000 weitere Menschen gemacht: Er verließ die katholische Kirche. Den letzten Ausschlag für den Austritt gab die anstehende Geburt seiner Tochter. "Ich habe mit meiner Frau viel über Werte diskutiert, die wir unserem Kind mitgeben wollen. Und da ich kann nicht Vater sein, wenn ich schweigend eine Institution wie die Kirche unterstütze, deren wachsende Missstände ich anprangere und deren Umgang mit Missbrauch ich so unredlich finde", erzählt der 35-jährige Sachse.

Über den Austritt Kritik geäußert

Seit Juli vergangenen Jahres ist der Katholik offiziell aus der Kirche ausgetreten. Damals lebte er berufsbedingt in Köln und er sagt unumwunden, dass die Vertrauenskrise rund um Kardinal Woelki seinen Austrittswillen befördert habe: "Ich wollte meine Kritik deutlich machen – und dieses System nicht mehr finanziell unterstützen." Das geht in Deutschland nur über den Weg des Austritts. Zugleich betont er: "Ich wollte damit kein Geld sparen." Das, was jetzt an Kirchensteuer fällig würde, bucht er auf ein separates Konto und unterstützt damit kirchliche Projekte, die ihm sinnvoll erscheinen.

Wilde kommt aus einer kirchlich geprägten Familie, war von Kindesbeinen an in seiner Pfarrei engagiert. Auch in seinem Freundeskreis sind das viele. Ein Jahr intensiver Diskussionen ging dem Austritt voraus. "Ich habe auch mit den Eltern meiner Patenkinder gesprochen. Das war mir sehr wichtig. Denn ich möchte da ja weiter meiner Verantwortung nachkommen – wie kann ich das als Patenonkel, der ausgetreten ist?"

Ungewöhnliche Geste des Dompropstes

Zugleich sagte er: "Ich habe ja nicht meinen Glauben verloren. Ganz im Gegenteil! Durch diesen Prozess bis zum Austritt bin ich in meinem Glauben sogar noch viel gefestigter geworden. Ich habe wieder angefangen zu beten." Seit Anfang des Jahres lebt Wilde mit seiner Frau, die nicht getauft ist, und seiner Tochter in Leipzig. Der dortige Pfarrer der Propsteigemeinde, Gregor Giele, lud ihn ausdrücklich ein, trotz Austritt auch in die Messe zu kommen, wenn er möge. Pfingsten war Wilde da: "Es tat mir gut. Und ich empfinde es nicht als Widerspruch zu meinem Austritt."

Statistik der christlichen Kirchen für 2021

Die Deutsche Bischofskonferenz hat am 27. Juni 2022 die Statistik für 2021 veröffentlicht. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte dies im März getan. Hier einige Eckdaten:

- Im vergangenen Jahr gehörten 21.645.875 Menschen der katholischen Kirche an, bei den Protestanten waren es 19.725.000. Das entspricht einem Anteil von rund 26 beziehungsweise 23,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung.

- Im vergangen Jahr traten 359.338 Menschen aus der katholischen und rund 280.000 Menschen aus der evangelischen Kirche aus. In beiden Fällen ist das ein neuer Rekordwert.

Entscheidung zum Kirchenaustritt
  / ©  Julia Steinbrecht (KNA)
Entscheidung zum Kirchenaustritt / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
KNA
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