DOMRADIO.DE: Ein Blick zurück aus kirchlicher Perspektive, wie sehr steckt die Coronazeit den Leuten vier Jahre später noch in den Knochen und Seelen?
Dr. Antonius Hamers (Leiter des katholischen Büros in Nordrhein-Westfalen und Domkapitular am St.-Paulus-Dom in Münster): Ich denke immer daran, wenn ich Messen habe. Denn dabei steht auf der Kredenz, also auf dem Gabentisch, noch immer Desinfektionsmittel. Dann erinnere ich mich daran, dass es die Corona-Krise gegeben hat. Das ist das, was offensichtlich bei einigen Menschen übrig geblieben ist. Insofern steckt es offensichtlich noch etwas in den Knochen beziehungsweise ist man nach wie vor an manchen Stellen vielleicht vorsichtiger als vorher.
DOMRADIO.DE: Auch für die Kirchen war das damals, also rund um Ostern 2020, eine völlig neue Situation. Was würden Sie im Rückblick als größte Herausforderung bezeichnen?
Hamers: Genau, es war eine große, neue Situation und eine große Herausforderung. Allein die Tatsache, dass wir damals auf die Gottesdienste verzichtet haben. Aus der damaligen Perspektive gab es, für mich jedenfalls und für viele andere Verantwortungsträger, keine vertretbare Alternative. Im Nachgang ist man natürlich immer klüger. Für die damalige Situation halte ich das aber nach wie vor für gut und richtig, dass wir da auf die Feier öffentlicher Gottesdienste verzichtet haben. Das war ohne Zweifel die größte Herausforderung.
In der Nachbetrachtung war allerdings manches einfach überzogen und insbesondere im schulischen Bereich zum Beispiel, im Kindergarten, in der Schule und was ansonsten noch an gesellschaftlichem Leben eingestellt worden ist, so nicht erforderlich. Aber es war eine völlig neue Situation und von daher konnte man es damals nicht anders wissen.
DOMRADIO.DE: Wie es der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu der Zeit gesagt hat, wir werden einander viel verzeihen müssen. Haben in Ihre Augen auch die Kirchen etwas versäumt?
Hamers: Es ist da auch viel Gutes geschehen, insbesondere, was die persönliche Seelsorge angeht. Aber das war von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Und an einigen Stellen ist es sicherlich versäumt worden, den Menschen zu signalisieren, dass die kirchlichen Verantwortlichen, dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger weiter ansprechbar sind, dass sie weiterhin ihren Dienst tun.
Es gab zum Teil sehr innovative, sehr gute Ideen und auch Umsetzungen, wie man Menschen erreicht hat. Es gab aber an einigen Stellen auch einen mehr oder weniger Totalausfall der Seelsorge und das war sicherlich das große Versäumnis. Da muss man auch sehr kritisch draufschauen. Das haben wir nach meinem Dafürhalten auch versäumt, da nochmal eine kritische Nachbetrachtung zu machen und zu schauen, wo was gut gelaufen ist und wo nicht.
DOMRADIO.DE: Welche Lehre haben die Kirchen in Ihrer Wahrnehmung aus dieser Corone-Zeit gezogen?
Hamers: Dass es auf der einen Seite in der damaligen Situation richtig war, so zu handeln. Zugleich aber sollten wir, wenn wir noch mal in eine solche Situation kommen, genauer hinschauen, welche anderen Rechtsgüter neben der Gesundheit auch eine wichtige Rolle spielen und die mit berücksichtigen.
Dazu gehören die Religionsfreiheit und auch die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen. Wir haben uns da vielleicht gerade in Deutschland zu stark darauf fokussiert, alles zu schließen statt vernünftig abzuwägen. Manchmal hatte man den Eindruck, dass derjenige, der am vorsichtigsten war, der Vernünftigste war. Das ist aber nicht immer so der Fall.
Da finde ich, ist manches und jetzt auch in der Nachbetrachtung offensichtlich völlig überzogen worden. Das muss man einfach sagen, das haben wir im kirchlichen Kontext zum Teil auch mitgemacht. Ich erinnere mich noch daran, wie viele selbsternannte Virologen und Epidemiologen auf einmal in den Pfarreien waren und die alles besser wussten. Sie wussten auch das, was wir wiederum mit der Landesseite ausgehandelt hatten, besser. Das hat mich persönlich zum Teil wirklich sehr genervt und sehr geärgert.
Wir haben ausgehandelt, wir haben sehr genau überlegt, was ist möglich, was ist nicht möglich. Und wenn dann irgendwelche Besserwisser vor Ort meinten, sagen zu müssen, nein das geht aber so nicht, wir müssen das doch anders machen, dann fand ich das schon zum Teil sehr ärgerlich. Denn damit ging auch einher, dass kirchliches Leben und Seelsorge zumindest sehr stark eingeschränkt, wenn nicht unmöglich gemacht worden sind.
Das Interview führte Carsten Döpp.