Kaum Barrierefreiheit in Paralympics-Stadt

Rio de Janeiros Stolperfallen

Obwohl Schuster Aílton Pontes keine Beine mehr hat, verzichtet er auf einen Rollstuhl. Damit könnte er sich in Rio de Janeiro gar nicht fortbewegen. Von Barrierefreiheit kann in der Stadt am Zuckerhut kaum die Rede sein.

Aílton Pontes verzichtet lieber auf einen Rollstuhl / © Veronika Seidel Cardoso (DR)
Aílton Pontes verzichtet lieber auf einen Rollstuhl / © Veronika Seidel Cardoso ( DR )

Aílton Pontes sitzt auf dem Bürgersteig in Rios Stadtteil Flamengo. Er putzt und repariert Schuhe. Nicht seine eigenen – denn Aílton hat keine Beine mehr. "Bei einem Zugunfall im Jahr 1979 habe ich beide Beine verloren", erzählt er. Wenn sich Aílton morgens auf den Weg zur Arbeit macht, setzt er sich nicht in einen Rollstuhl. Stattdessen schnallt er sich eine Art Gummimatte unter seinen Unterleib, die er mit Hosenträgern befestigt. Dann geht er auf Händen los.

Rollstuhl wäre viel zu unpraktisch

"Ich wollte keinen Rollstuhl. Ich habe diesen Gummischutz für mich gemacht, trage Flipflops an den Händen, und gehe so. Ich mag keine Rollstühle, denn damit ist man abhängig und das will ich nicht. So wie ich mache gehe ich einfach, wohin ich will und es ist viel praktischer."

Teresa Costa d’Amaral kann den behinderten Schuster gut verstehen. Als Leiterin des Instituts für die Rechte behinderter Menschen in Rio weiß sie, mit welchen Problemen er täglich konfrontiert wird. Zwar gibt es schon einige Ansätze von Barrierefreiheit in der Stadt am Zuckerhut. Aber das reicht nicht.

Kaum Rampen an den Bürgersteigen

"Es ist, als ob die Menschen kein Recht auf Mobilität hätten. Es gibt keine Rampen an den Bürgersteigen, die Busse sind zu klein für Rollstühle. Auch die Bahn ist nicht auf behinderte Menschen eingestellt. Manchmal muss der Rollstuhlfahrer von Bahnmitarbeitern getragen werden. Manche gehen deshalb einfach nicht auf die Straße."

In der Nordzone, in der vor allem der ärmere Teil der Bevölkerung lebt, ist die Lage noch schlimmer. Die Stadt investiert ihre Gelder dort nicht, weil es einfach nicht profitabel genug ist. So werden mittellose Behinderte vom sozialen Leben oft ausgeschlossen.

"Ich habe Freunde, die, bevor sie das Haus verlassen, um in eine Kneipe zu gehen, vorher immer dort anrufen und fragen, ob es eine Toilette im Erdgeschoss und ob es überhaupt genügend Platz für den Rollstuhl gibt."

Kneipenabend mit Freunden muss oft ausfallen

Oft ist das leider nicht der Fall und der Kneipenabend mit Freunden muss ausfallen. Auch blinde Menschen haben es in Rio schwer, weil es in der Stadt nur eine einzige Ampel mit akkustischem Signal gibt, erzählt Teresa. Die Paralympics wären eine Chance gewesen, in Sachen Barrierefreiheit etwas zu ändern – aber die Stadt hat sie nicht genutzt:

"Ganz im Gegenteil. Die Investitionen sind alle für Stadien und Sportanlagen draufgegangen. Die Stadt ist völlig vernachlässigt worden."

Das Institut für die Rechte behinderter Menschen hat schon einige Zivilklagen gegen die Stadt am laufen: Um barrierefreie Zugänge zu Ämtern zu bauen zum Beispiel. Bis jetzt ist nichts passiert, sagt Teresa.

Verbesserungen für bestimmte soziale Schichten

Und das wird sich in naher Zukunft auch nicht ändern, prognostiziert Prof. Orlando Silva Santos Junior vom Institut für Stadtplanung der Bundesuniversität Rio. In der Verkehrsplanung der Stadt hätten Autos stets Priorität. Fußgänger und Rollstuhlfahrer würden kaum eingeplant.

Er bedauert sehr, dass die Paralympischen Spiele den Fokus nicht verschieben konnten: "Sie sind eben doch nur ein Touristenspektakel. Wir haben die Chance verpasst, eine faire und soziale Stadt zu werden, die auf Sozialintegration setzt."

Paralympics interessieren Aílton nicht

Schuster Aílton hat die Hoffnung, dass sich etwas in Rio tut, schon längst aufgegeben und seinen eigenen Weg gefunden, mit seiner Behinderung umzugehen. Die Paralympics wird er nicht verfolgen. Das Geld für die Großevents, die Stadien und Spielstätten hätte seiner Meinung nach eher ins Gesundheitssystem fließen sollen. "Die Wettkämpfe interessieren mich einfach nicht. Die Spiele hätte Brasilien einem anderen Land überlassen sollen, wo es auch die Strukturen dafür gibt."


Einige Metrostationen in Rio sind mit Aufzügen ausgestattet / © Veronika Seidel Cardoso (DR)
Einige Metrostationen in Rio sind mit Aufzügen ausgestattet / © Veronika Seidel Cardoso ( DR )

Teresa Costa d'Amaral setzt sich für Behinderte ein / © Veronika Seidel Cardoso (DR)
Teresa Costa d'Amaral setzt sich für Behinderte ein / © Veronika Seidel Cardoso ( DR )

Prof. Orlando Santos Junior / © Veronika Seidel Cardoso (DR)
Prof. Orlando Santos Junior / © Veronika Seidel Cardoso ( DR )
Quelle:
DR