Wenn Krankwerden im Alter zur Armutsfalle wird

Kaum Rente bedeutet soziale Isolation

Kein Geld, keine Freunde und keinen Lebensmut. Auf viele Menschen im Alter trifft das zu. Und das, obwohl sie ein ganz normales Leben geführt haben. Solange bis sie krank wurden, ihren Job verloren und in eine Abwärtsspirale gerieten.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Symbolbild Armut / © Lukas Gojda (shutterstock)

Peter Hauser* stand mitten im Leben, als es ihn kalt erwischte. Mit 55 Jahren ist für ihn das, was er ein "annehmbares Leben" nennt, mit einem Mal zu Ende.

Seit zehn Jahren sitzt der heute 64-Jährige mit seiner gleichaltrigen Frau in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. 14 bis 16 Stunden täglich läuft das Fernsehen – für beide die einzige Verbindung zur Außenwelt.

Sie sind krank und arm

Denn vor die Tür zu gehen fällt ihnen schwer. Weil sie krank sind. Und weil sie arm sind. Beides schränkt ihren Bewegungsradius deutlich ein. Sozialkontakte haben sie so gut wie keine mehr.

Außer vielleicht zu der einen oder anderen Nachbarin auf dem Flur vis-à-vis, die wie die Hausers ebenfalls einen Wohnberechtigungsschein vom Sozialamt für ihr Apartment hat.

"Ich lebe nur noch von Schmerzen"

Die größte Hypothek für sie persönlich aber ist, dass bei beiden eben die Gesundheit nicht mehr mitspielt. "Ich lebe nur noch von Schmerzen und von Opiaten, um die Beschwerden aushalten zu können. Manchmal ist der Schmerzpegel so hoch, dass ich die Wände hochgehen könnte", stöhnt der Rentner.

Aber auch die jahrelange Abhängigkeit von den morphinhaltigen Medikamenten macht ihm zu schaffen. An die Nebenwirkungen dieser starken Tabletten musste er sich erst gewöhnen: Aggression sei die schlimmste von ihnen, erklärt er.

Die mangelnde Ausgeglichenheit und die Unzufriedenheit ihres Mannes, die sich schon mal in einem rauen Umgangston miteinander äußert, bekommt auch Anne Hauser* oft genug zu spüren.

Einziges Laster: das Rauchen 

Lange war es der gewohnheitsmäßige Alkoholkonsum ihres Partners, nun ist es die Einnahme der starken Medizin, die zu seiner Persönlichkeitsveränderung beigetragen hat. Da ist sie sich sicher. Aus diesem Grund, sagt sie, seien sie auch schon lange kein Paar mehr. "Das ging einfach nicht mehr."

Trotzdem würden sie aber noch füreinander sorgen. Auch weil der eine ohne den anderen kaum zurechtkäme. "40 gemeinsame Jahre – die schmeißt man nicht einfach so weg", sagt Peter Hauser und geht für eine kurze Zigarettenpause mal eben nach draußen.

Das einzige Laster, von dem der Raucher nicht lassen kann – auch wenn er sich das in seiner Situation eigentlich nicht leisten kann. Denn die Hausers sind so arm, dass sie jeden Cent gleich dreimal rumdrehen müssen, wie der Rentner bitter erklärt.

Jobaufgabe wegen starker Schmerzen

Das war nicht immer so. Zumal beide jahrzehntelang erwerbstätig waren. Peter Hauser ist gelernter Maler und Lackierer, hat aber 16 Jahre lang in einer Messerschleiferei gearbeitet und dort "tonnenweise Material bewegt", wie er sagt, so dass er sich in diesem Beruf "das Kreuz total verschlissen" hat und immer wieder krank geschrieben werden musste. Eine Operation bringt keine Linderung.

Zunächst versucht er, die anhaltenden Rückenschmerzen mit starken Medikamenten in Schach zu halten. Ohne Erfolg. Ihm wird geraten, sich verrenten lassen. Doch Hauser fühlt sich zu jung, um mit 45 zu Hause herumzusitzen, und schult zum Automobilkaufmann um.

In einem großen Betrieb findet er noch einmal eine Anstellung als Verkaufsberater für Kleintransporter: zu einem Grundgehalt plus Provision. Ein Job, der ihm Spaß macht und acht Jahre für ein gutes Auskommen sorgt. Bis sich die Schmerzen als Dauerzustand zurückmelden.

Bei einer zweiten OP werden ihm ein Stift in die Wirbelsäule und auch eine künstliche Bandscheibe eingesetzt. Doch wieder gibt es keine Besserung. Mit dem behandelnden Arzt geht er hart ins Gericht; Hauser glaubt, dass da "etwas verpfuscht wurde".

Die Medikation wird erhöht, damit das Leiden überhaupt auszuhalten ist. Nun kann der Verkaufsberater nicht einmal mehr an seinen Arbeitsplatz ins Autohaus zurück.

Für die Gesundheit wird viel Geld gebraucht

Mit gerade mal 55 Jahren beantragt er die Erwerbsminderungsrente. 1150 Euro monatlich stehen ihm zu, während seine Frau gleichzeitig nur eine Grundsicherung von 260 Euro bekommt. Wenn davon Miete, Strom, Versicherungen und das Internet abgehen, bleiben ihm 40 Euro wöchentlich.

Seine Frau, so hat Hauser, der das gemeinsame Konto verwaltet, ausgerechnet, muss mit 30 Euro pro Woche auskommen. Ausgaben darüber hinaus bedeuten Verschuldung und einen Teufelskreis, aus dem beide aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden. Größere Anschaffungen wie Elektrogeräte sind daher nicht möglich.

Wer gilt als armutsgefährdet?

Als armutsgefährdet gilt laut Statistischem Bundesamt, wer als Alleinstehender über ein Einkommen von maximal 13.628 Euro im Jahr verfügt.

Diese Entwicklung wird sich nach Ansicht von Wirtschaftsexperten in den nächsten Jahren massiv verschärfen, zumal Altersarmut in den nächsten Jahren noch einmal deutlich zunehmen wird. Denn immer mehr Menschen arbeiten zu geringen Löhnen oder in Teilzeit oder haben unterbrochene Erwerbsbiografien.

Besonders Familien mit drei oder mehr Kindern sind von Armut betroffen / © Ralf Geithe (shutterstock)
Besonders Familien mit drei oder mehr Kindern sind von Armut betroffen / © Ralf Geithe ( shutterstock )

Und unabwendbare Kosten wie Therapierechnungen, die die Krankenkasse nicht übernimmt, werden gemeinsam besprochen, zumal nie ein finanzielles Polster da ist und außerdem noch Ratenzahlungen für das Fernsehgerät laufen und auch andere Kleinkredite abgezahlt werden müssen.

In der Summe eigentlich eine Rechnung, die nicht aufgeht. Denn auch Anne Hauser ist krank und muss wegen diverser Unverträglichkeiten eine Menge Geld für ihre Gesundheit ausgeben, so dass die vorhandene Summe vorne und hinten nicht reicht.

30 Jahre hat die Restaurantfachfrau als Kellnerin gearbeitet. Allerdings wegen des zunächst kleinen Kindes immer mit geringfügigem Beschäftigungsumfang, was ihr jetzt zum Verhängnis wird. Nach zwei Hüftoperationen, die sie in ihrer Mobilität deutlich einschränken, arbeitet sie nach ihrem Abschied in der Gastronomie schließlich noch ein paar Jahre in einem Kiosk.

Dann häufen sich die Diagnosen: Bauchspeicheldrüsen-Insuffizienz, Lymphödeme, Fibromyalgie, Nierensteine, Magen-Darm-Erkrankungen und schließlich auch psychosomatische Symptome. Mit 60 geht auch bei ihr nichts mehr, obwohl Anne Hauser ihre Arbeit in dem Büdchen mit dem täglichen Publikumsverkehr, wo man sich kennt und immer was los ist, liebt.

Keine Chance, der Armut zu entkommen

Durch ihre diversen Krankheiten hat sie einen großen finanziellen Mehraufwand, denn herkömmliche Schmerztabletten verträgt sie nicht. Das einzige, was helfe, sei Cannabis, koste  zur medizinischen Anwendung aber 30 Euro monatlich und übersteige regelmäßig das Budget, klagt Anne Hauser. Auch ihre Lebenshaltungskosten liegen höher als die ihres Mannes.

Denn sie muss strikt auf die Zusammensetzung der Lebensmittel achten. Und Bio-Produkte sind nun mal teurer. "Das wird nicht in den Regelsätzen der Grundsicherung berücksichtigt", ärgert sie sich. Bis ans Lebensende hätten sie einfach keine Chance, dieser niederschmetternden Armut zu entkommen.

"Ich war mal eine Turbo-Frau", seufzt sie rückblickend. Doch davon sei nicht mehr viel übrig. "Heute habe ich keinerlei Impuls mehr, überhaupt noch unter Leute zu gehen." Schaufenster und Geschäfte interessierten sie schon lange nicht mehr. "Kaufen kann ich ja doch nichts."

Sie schämt sich, nach über 40 Jahren Arbeitsleben mit leeren Händen dazustehen und überall Bittstellerin zu sein: bei der Caritas der örtlichen Kirchengemeinde oder beim Jobcenter, wenn es um einen Berechtigungsschein für die Tafel geht.

Denn aus beiden langjährigen Berufstätigkeiten erwachsen ihr keine Rentenansprüche, und so ist das Portemonnaie oft schon zur  Monatsmitte gleich wieder leer. Um das Thema "Altersversorgung" hat sie sich, als alles noch lief, nie gekümmert. Nun rächt sich diese Gedankenlosigkeit mehr als bitter.

"Eigentlich haben wir allen Lebensmut verloren", gesteht die 64-Jährige. "Wenn wir unseren Sohn und das Enkelkind nicht hätten", ergänzt ihr Mann, der stolz das Foto eines lachenden Babys zeigt, "würde ich in den Keller gehen und mich aufhängen. Wofür denn noch weiterleben?"

Zwischen Armut und Krankheit besteht Wechselwirkung

Die Hausers gehören zu der wachsenden Zahl an Menschen in Deutschland, die vorzeitig krank aus dem Berufsleben ausscheiden müssen und auf eine Erwerbsminderungsrente angewiesen sind. Und ihre Zahl steigt.

Inzwischen machen die Frührentner mehr als 20 Prozent aller Neurentner aus. Hinzu kommt, dass – laut Studien – zwischen Armut und Krankheit eine Wechselwirkung besteht, die den Betroffenen oft zum Verhängnis wird: Armut macht krank, Krankheit macht arm.

Je geringer das Einkommen, desto stärker sind die Menschen betroffen und desto schlechter ist ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung. Vor allem bei chronisch Kranken ist Erwerbslosigkeit immer mehr ein Thema.

Und die Problematik ist komplex. Untersuchungen besagen, dass die Ernährung bei Armutsbetroffenen schlechter sei und ihre Situation zu mehr Stress und Isolation führe – und damit zu Depressionen.

"Das Leben kreist den ganzen Tag ums Geld"

Mit dieser verhängnisvollen Abwärtsspirale leben auch die Hausers nun seit fast zehn Jahren. Selbst dem eigenen Kind gegenüber empfinden sie längst Scham, geschweige, dass sie es übers Herz brächten, sich von ihrem Sohn unterstützen zu lassen.

"Dafür bin ich zu stolz", sagt Peter Hauser und wischt sich verstohlen ein paar Tränen weg. "Allein schon der Gedanke, nicht für die eigene Familie sorgen zu können, ist ein beschämendes Gefühl."

Dass Erwerbsminderung in die Armut führe, habe er am Anfang nicht für möglich gehalten. Manchmal denke er daran, die vielen teuren Medikamente, die für ihn und seine Frau lebensnotwendig sind, einfach wegzulassen. Einen Suizidversuch hat er bereits hinter sich. Wofür noch eine künstliche Lebensverlängerung?

Über die Sinnlosigkeit eines solchen Lebens, das den ganzen Tag um das Thema "Geld" kreise und ihnen alle Freude genommen hätte, würden sie sich oft genug  austauschen, sagt er resignierend.

Heute blieben ihnen nur noch Erinnerungen an die besseren Zeiten, als ein Besuch mit Freunden im Biergarten, Café oder Kino ganz selbstverständlich mit dazugehört habe. "Allein käme ich ja vielleicht noch über die Runden. Aber meine Frau hängen lassen – das kann ich nicht."

Hauser mag sich gar nicht ausmalen, wie es beiden erst ergehen wird, wenn sie in Kürze das offizielle Rentenalter erreichen. "Dann gibt es von dem Wenigen, was da ist, noch ein paar Abzüge. Denn so etwas wie Telefon- oder Rundfunkgebühren, die bisher das Sozialamt übernimmt, müssen wir dann selbst aufbringen." 

Niemand soll von der prekären Lage erfahren

"Unser Auto und auch der Schmuck sind längst verkauft. Wir sind völlig mittellos und müssen die Dinge, die wir noch besitzen, gut pflegen. Denn etwas Neues können wir uns nicht leisten", beschreibt Anne Hauser ihre Situation, die sie sozial völlig isoliert und die sie, so gut es geht, vor anderen auch zu verbergen sucht.

Denn niemand, darin ist sie sich mit ihrem Mann einig, soll von ihrer prekären Lage erfahren. "Ich hätte nie gedacht, dass wir eines Tages in diese extreme Armut abrutschen würden", sagt sie. "Es ging uns mal richtig gut. Aber als wir bei Einladungen nicht mehr mithalten konnten, haben wir uns auch von unseren Freunden immer mehr zurückgezogen.

Heute bleiben wir den ganzen Tag fast ausschließlich in unseren eigenen vier Wänden und haben niemanden mehr." Denn an dem normalen Leben könnten sie, ohne dass sie sich offenbaren müssten, nicht mehr teilnehmen. Und mitreden könnten sie bei vielem sowieso nicht mehr. "Armut macht einsam." Die brutale Realität dieses Satzes gehört längst zum Leben der Hausers dazu. Jeden Tag spüren sie schmerzlich, was es heißt, nicht mehr dazuzugehören.

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

Quelle:
DR