DOMRADIO.DE: Wie kam die Missbrauchskommission in Frankreich zustande und wie hat sie gearbeitet?
Pfarrer Markus Hirlinger (Deutsche Gemeinde Paris): Das war schon im Jahr 2018. Im November hat die Französische Bischofskonferenz aufgrund der Missbrauchsfälle diese unabhängige Kommission ins Leben gerufen. Da haben dann etwa 20 Mitglieder über diese drei Jahre gearbeitet. Da waren Juristen dabei, Mediziner, Historiker, Theologen, die sagen, dass sie 26.000 Stunden ehrenamtlich gearbeitet haben.
Die haben zunächst in den Archiven der Diözesen nachgeschaut, in den Archiven der Ordensgemeinschaften, aber auch bei der Justiz, bei der Polizei. Darüber hinaus haben sie noch eine öffentliche Aufforderung gestartet, dass sich alle Betroffenen zu Wort melden sollen, schreiben sollen, sich rühren sollen, anrufen sollen, wie auch immer.
Die Vorgabe war für die Mitglieder dieser Kommission immer: Hören, wirken lassen und den Betroffenen glauben.
DOMRADIO.DE: In der katholischen Kirche in Frankreich hat es laut einer Untersuchung seit 1950 geschätzt 216.000 minderjährige Opfer sexueller Übergriffe durch Priester, Ordensleute und Kirchenmitarbeiter gegeben. Nimmt man Laien und Kirchenmitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen, Schulen, Pfarreien und Katechese hinzu, so kommt die Kommission sogar auf geschätzt 330.000 Opfer. Das Ausmaß ist höher als befürchtet. Die Untersuchungskommission selbst hat zwischen 2.900 und 3.200 potenzielle Täter ermittelt. Nur zum Vergleich: In Deutschland kam die bislang größte Studie zum Thema 2018 auf 3.677 Betroffene sexualisierter Gewalt in Deutschland, natürlich auch in einem anderen Zeitrahmen. Was zeigen diese hohen Zahlen jetzt über die Situation in Frankreich?
Hirlinger: Das ist unfassbar. Hinter jeder Zahl steckt ein Mensch mit seiner Erfahrung, mit dem, was er erlebt hat. Ich sage noch ein bisschen was zu den Zahlen, so wie ich es einschätze oder wie ich es gelesen habe und gehört habe, als der Bericht veröffentlicht wurde.
Von den 3.200 kirchlichen Missbrauchsbeschuldigten waren etwa 2.000 diözesane Priester. In diesem Zeitraum gab es etwa 115.000 Priester. Das heißt, diese 2.000 Diözesanpriester entsprechen zwei Prozent aller Priester, die da schuldig geworden sind. Es wurde auch die Zahl von Missbrauchsfällen in Frankreich allgemein genannt, das sind 5,5 Millionen. Das ist unfassbar. 5,5 Millionen Opfer, das sind zehn Prozent der Bevölkerung ungefähr.
Der Ort des Missbrauchs ist an erster Stelle der Familien- und Freundeskreis, aber schon an zweiter Stelle steht die katholische Kirche. Noch nicht so im Bewusstsein war bisher, dass ein Drittel der Täter ehrenamtliche Laien sind. Also etwa vier Prozent der Täter sind Priester und Ordensleute und zudem zwei Prozent Laien. Es sind also sechs Prozent der kirchlichen Angestellten in Frankreich zu Tätern geworden.
Erstaunlich ist auch, dass die Kinder damals zwar davon erzählt haben, ihnen aber nicht geglaubt wurde. Nicht mal von den eigenen Eltern.
DOMRADIO.DE: Wie reagieren denn die Vertreter der Kirche in Frankreich auf diese Zahlen und auf den Bericht?
Hirlinger: Da herrscht schon eine unglaubliche Betroffenheit. Auch Kollegen von mir, die ich in den letzten Tagen und Wochen erleben durfte, zeigen sich entsetzt, weil das Ausmaß sich ja schon angedeutet hatte. Es herrscht eine unglaubliche Betroffenheit, Sprachlosigkeit. Es macht traurig und entsetzt einen.
Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Eric de Moulins-Beaufort, sagt auch, dass es wesentlich schlimmer ist als befürchtet. Er ist beschämt über das "Schweigenmüssen" der Opfer, dass sie nicht gehört wurden und keine Chance hatten. Er erkennt die Schuld der Kirche. Und er bittet natürlich auch, wie schon häufig, um Verzeihung all jener, die eben nicht an die Öffentlichkeit gehen, nicht sprechen können.
Es ist heute kein Hauch mehr von Selbstverteidigung zu sehen, dass sich die Kirche da besser darstellen will. Es herrscht wirklich Annahme, dass sie große Schuld auf sich geladen hat. Einig sind sich alle, dass man die Opfer mehr in den Blick nehmen muss, sie hören und denen glauben muss. Die gehören in die erste Stelle.
DOMRADIO.DE: Hat denn die Kirche schon irgendwelche Konsequenzen angekündigt?
Hirlinger: Etwas Neues habe ich es jetzt nicht gehört, aber im März dieses Jahres hat die Bischofskonferenz einen Maßnahmenkatalog von elf Punkten veröffentlicht, dem sie sicherlich weiter nachgehen und noch vertiefen wird. Da gehören zum Beispiel bessere Kontrollmechanismen dazu. Mehr Transparenz. Da sind Gremien mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen eingerichtet worden, die dann leichter Zugang für Gesprächsangebote bieten sollen. Natürlich ist eine finanzielle Entschädigung in dem Bereich angedacht.
Es gibt auch zwischen den Diözesen eine inter-diözesene, juristische Fachstelle, sodass jetzt nicht nur die Diözese, der Bischof alleine auf seine Fälle blickt, sondern dass das neutraler gehandhabt wird. Das ist sicherlich auch auch hilfreich.
Und natürlich sind Prävention und Priesterausbildung Stichworte. Eine dieser elf Maßnahmen ist auch ein Tag des gemeinsamen Gebetes für die Opfer, und zwar in der ganzen katholischen Kirche in Frankreich.
DOMRADIO.DE: Wie nehmen denn die Mitglieder Ihrer Gemeinde in Paris diese Erkenntnisse zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Frankreich auf?
Hirlinger: Die sind schon geschockt und traurig. Es ist unfassbar. Meistens ist man eher sprachlos, traut sich kaum darüber zu reden, weil man ja selber im normalen Fall irgendwie nicht mit einem Opfer oder mit einem Täter in Kontakt ist.
Die Deutschen sehen schon sehr schnell, dass man auch was verändern muss. Die sind jetzt auch ein bisschen von dem Reformprozess, der Reformbewegung in Deutschland, vom Synodalen Weg geprägt. Und dann nennen die auch die Themen, die jetzt auf den Tisch müssen, dass man auch endlich die katholische Sexuallehre überprüfen muss und verändern muss.
Auch die Macht der Priester, der Klerikalismus ist immer noch ein Thema. Das ist dann in Frankreich vielleicht noch stärker als in Deutschland. Aber was ich so zwischen den Zeilen höre, ist, dass viele dennoch glauben und hoffen, dass es irgendwie einen Weg heraus gibt und dass Heilung für die Opfer letztlich möglich ist und auch für die Zukunft der Kirche.
Das Interview führte Florian Helbig.