Anders als manche aktuellen Schlagzeilen nahelegen, soll das Singen in evangelischen Gottesdiensten auch künftig nicht verboten werden. Der Leipziger evangelische Theologe Alexander Deeg erläutert in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) die Beschlusslage. Er ist auch Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD).
KNA: In den "Eckpunkten" der EKD zur "verantwortlichen Gestaltung von Gottesdiensten" heißt es: "Gemeinsames Singen birgt besonders hohe Infektionsrisiken, deshalb sollte darauf wie auch auf Blasinstrumente bis auf Weiteres verzichtet werden." Was bedeutet das für die jetzt erlaubten Gottesdienste?
Deeg: In der Corona-Krise geht es im Blick auf die Feier von Gottesdiensten beständig darum, die Verantwortung für das Wohl des/der Nächsten und für das eigene Leben abzuwägen gegen die für eine christliche Kirche unaufgebbare Praxis der Gottesdienstfeier.
Kirche lebt, so sagt es das Augsburger Bekenntnis von 1530, wo das Wort verkündigt und die Sakramente verwaltet werden. Sie kann nicht sein, ohne dass die Gemeinde auf das hört, was Gott zu sagen hat, und darauf antwortet. Wie diese Praxis aber gestaltet wird, ist zu jeder Zeit neu zu fragen. Gegenwärtig geht es um eine Risikoabwägung und darum, den Schutz möglichst Vieler zu gewährleisten. Durch die Feier des Gottesdienstes soll niemand gefährdet werden. Gottesdienste sollen zum Lob Gottes beitragen, aber nicht zur Bedrohung für die Nächsten werden.
KNA: Das bedeutet konkret für Gottesdienste?
Deeg: Es scheint mir wichtig, dass diese nun nicht einfach nach einem Reduktionsprinzip gefeiert werden - nach dem Motto: Wir nehmen die bisherige Ordnung und streichen alles, was jetzt nicht mehr möglich ist. Vegetarische Küche ist auch nicht einfach klassische Küche ohne Fleisch! Es geht darum, die Kreativität, die in den vergangenen Wochen erfreulich wahrzunehmen war - und die zu vielen sehr unterschiedlichen digitalen Formaten, aber auch zu vielen anderen Formen der Kommunikation führte, nun auch im Blick auf die Gestaltung von Präsenz-Gottesdiensten und deren Liturgien zu nutzen.
Natürlich spielen bei den Gottesdiensten, die jetzt gefeiert werden, Musik und Worte eine große Rolle. Alle Möglichkeiten der Musik - Orgel, E-Piano, Saiteninstrumente, Trommeln etc. - können genutzt werden. Es kann auf vielfältige Weise gemeinsam gebetet werden.
Wichtig ist zudem, dass nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer zu Wort kommen, sondern auch andere. Vielleicht besteht eine besondere Gefahr gegenwärtig darin, dass die evangelische Kirche als Kirche des Wortes erst recht zu einer Kirche der zu vielen pastoralen Worte wird. Die Notwendigkeit der Distanz zu anderen und die begrenzte Anzahl der Teilnehmenden kann dazu führen, dass sich die Gemeinde anders im Kirchenraum verteilt und neue Perspektiven wahrnimmt. Gottesdienste, bei denen sich die Feiernden im Raum bewegen und an unterschiedlichen Orten Unterschiedliches wahrnehmen - auch Stille, Segen etc., sind möglich.
KNA: Welche Bedeutung hat überhaupt der Gesang im evangelischen Gottesdienst, und wie wichtig sind die traditionellen Posaunenchöre?
Deeg: Dass die Gemeinde gemeinsam singt, gehört zu den wahrnehmbarsten Veränderungen des Gottesdienstes durch die Reformation. Für die lutherische Reformation spielte das Gemeindelied von Anfang an eine herausragende Rolle, aber auch in reformierten Gegenden wurde vielerorts von Anfang an, mancherorts mit etwas zeitlicher Verzögerung gemeinsam gesungen. Gemeinsames Singen verbindet die Gemeinde in Lob und Bekenntnis, Bitte und Klage, vertreibt dunkle Gedanken, lässt Gemeinschaft erleben. Im Singen verkündet die singende Gemeinde einander das Evangelium. Luther meinte in seiner berühmten Torgauer Kirchweihpredigt 1544, es solle in diesem neu geweihten Kirchenraum nichts Anderes geschehen, als dass Gott selbst rede mit seinem heiligen Wort und wir ihm antworten mit Gebet und Lobgesang. Auch diese häufig "Torgauer Formel" genannte Aussage unterstreicht die immense Bedeutung des Gesangs für den evangelischen Gottesdienst.
Von daher ist es ein bitterer Einschnitt, wenn für eine gewisse Zeit aus einer grundlegenden ethischen Abwägung heraus auf das gemeinsame Singen verzichtet werden muss. Aber es gehört zum Leben, dass nicht zu jeder Zeit alles möglich ist - und ein Gesanges-Fasten lässt die Vorfreude auf das gemeinsame Singen, sobald dieses wieder verantwortbar möglich ist, steigen und erleben, welche Bedeutung der Gesang hat.
In den evangelischen Kirchen in Deutschland gibt es rund 7.000 Posaunenchöre, in denen etwa 120.000 Menschen aktiv sind. Sie können derzeit nicht in Gottesdiensten spielen; aber es gibt viele Beispiele, dass auch diese Chöre in Corona-Zeiten aktiv werden. In manchen Dörfern spielen die Mitglieder der Chöre jeden Tag zu einer bestimmten Zeit vom Balkon oder Garten aus einen Choral. Es gibt Gemeinden, in denen zu Hause erstellte Video-Aufnahmen einzelner Bläser zusammengeschnitten und ins Netz gestellt werden und vieles andere.
KNA: Wie kann eine Umsetzung der Richtlinie in den Gemeinden erfolgen, die den Gesang in gewissem Umfang ermöglicht?
Deeg: Der Verzicht auf gemeinsamen Gesang bedeutet nicht Verzicht auf Musik und Gesang im Gottesdienst. Mit ausreichend Abstand - wohl deutlich mehr als beim Sprechen - kann Solo-Gesang oder auch der Gesang eines kleineren Ensembles stattfinden. Die Gemeinde kann Texte mitlesen oder die Lieder mitsummen. Ob es bei ausreichend großem Abstand und mit Nasen-Mund-Schutz auch möglich ist, dass die Gemeinde selbst singt, müssen Expertinnen und Experten beurteilen. Übrigens war schon Luther der Meinung, dass nicht nur die Vokal-Musik die frohe Botschaft verkündigt, sondern auch Instrumentalmusik dazu in der Lage ist.
Ich meine, Gottesdienst wird auf absehbare Zeit zweigleisig funktionieren: einerseits als Gottesdienst, der im Fernsehen oder Internet übertragen und zu Hause gefeiert wird und bei dem die einzelnen zu Hause nach Lust und Laune mitsingen können! Und andererseits Gottesdienste, die in kleinerer Zahl in den Kirchen gemeinsam gefeiert werden; diese werden anders sein als gewohnt, aber auch in ihnen wird Gottes Wort erfahrbar werden.
Das Interview führte Norbert Zonker.