KHKT veröffentlicht neue Studie zum Religiositätsrückgang

"Den Menschen aufs Maul schauen"

Eine neue Studie der Kölner Hochschule für Katholische Theologie untersucht die Säkularisierung in Deutschland und in Europa. Mit Hilfe Künstlicher Intelligenz wird dabei den Menschen "aufs Maul geschaut", wie Elmar Nass berichtet.

Autor/in:
Jan Hendrik Stens
Leere Stühle in einer Kirche / © Massimiliano Papadia (shutterstock)
Leere Stühle in einer Kirche / © Massimiliano Papadia ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: "Den Menschen aufs Maul schauen – Wege zu einer nachfrageorientierten Kirche und Theologie" ist der Titel Ihrer Studie, die demnächst veröffentlicht wird. "Aufs Maul schauen" klingt nach Martin Luther. Welche 95 Thesen liegen Ihrer Studie zugrunde, sodass sie sich von anderen unterscheidet?

Prof. Dr. Dr. Elmar Nass (privat)
Prof. Dr. Dr. Elmar Nass / ( privat )

Prof. Dr. Elmar Nass (Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie / KHKT): Da muss ich direkt schmunzeln. 95 Thesen haben wir zwar nicht, der Bezug zu Martin Luther ist aber tatsächlich bewusst gewählt, auch im Blick auf die Forschungspartner, die wir haben. Wir haben auch Sozialwissenschaftler aus meiner früheren Stelle dabei, die empirisch arbeiten. Das ist eine evangelische Hochschule in Fürth. Von daher ist auch dieser ökumenische Aspekt voll mit drin.

Die Grundüberlegung, warum wir diese Studie angestellt haben, ist die folgende: Wir sehen, dass seit vielen Jahren mit viel Ressourcen auch in der Kirche daran gearbeitet wird, wie wir den Exodus der Gläubigen aufhalten können. Aber es gelingt offenbar nicht. Wir sehen also, dass trotz vieler Reformbemühungen irgendetwas immer noch schief zu laufen scheint.

Elmar Nass

"Wir müssen schauen, was wirklich die Fragen sind, die die Menschen heute auch vielleicht wieder an Kirche interessieren könnten."

So haben wir uns gedacht, dass wir da einmal genauer hinschauen müssen. Wir müssen schauen, was die Fragen sind, die die Menschen heute wieder an Kirche interessieren könnten, um sie auch wieder dafür zu begeistern, nicht auszutreten und vielleicht auch wieder einen Weg zurück in die Kirche zu finden. Das motiviert uns.

Symbolbild Umfrage, Fragebogen / © jannoon028 (shutterstock)
Symbolbild Umfrage, Fragebogen / © jannoon028 ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie kritisieren an anderen bisherigen Studien mit Fragebögen, dass diese häufig interessegeleitet und selten aussagekräftig seien. Können Sie das präzisieren?

Nass: Ein bisschen habe ich auch vorher an meiner früheren Stelle sozialwissenschaftlich gearbeitet, das heißt auch Befragungen durchgeführt. Da haben wir oft auch mit Fragebögen gearbeitet. Ich selbst habe auch schon daran mitgewirkt, solche zu beantworten.

Die Gefahr dabei ist immer, dass bei einer solchen Methode die Fragen in eine bestimmte Richtung gelenkt sind, dass man suggestiv bestimmte Unterstellungen in die Frage hineinsetzt. Das kann dann am Ende die Objektivität der Studie verfälschen. 

Deswegen geht es uns darum, nicht unsere Interessen zum Ausgangspunkt der Befragung zu machen, sondern da anzusetzen, was die Menschen aus sich heraus, von sich heraus über Kirche und entsprechende Themen sagen und nicht auf uns reagieren. Vielmehr wollen wir schauen, wie die Menschen heute agieren, und zwar selbst motiviert, ohne einen Anstoß von uns. 

DOMRADIO.DE: Eine Besonderheit in Ihrer Studie ist, dass Sie Künstliche Intelligenz einsetzen. Wie haben Sie diese eingesetzt und worin liegt da der Vorteil? 

Nass: Ich bin als Sozialwissenschaftler auch ein bisschen mit dem Thema Künstliche Intelligenz beschäftigt und sehe da manche Schwierigkeiten. Aber in dem Fall bietet sich der Einsatz tatsächlich an, weil wir entsprechende Foren im Internet durchforstet haben. Das haben die Sozialwissenschaftler gemacht, die da auch eine sehr große Expertise mitbringen.

Es wurden insgesamt rund 800.000 Posts mit über fünf Millionen Sätzen im Internet durchforstet. Es wurde herauskristallisiert, wie Menschen im Internet reden, wie sie sich in Chatrooms über Themen unterhalten, die auch mit Kirche zu tun haben. Das schaffen wir gar nicht, indem wir uns als Menschen da hinsetzen und in Chatrooms irgendetwas durchforsten. Das ist dann auch vielleicht wieder interessegeleitet.

So haben wir die Künstliche Intelligenz darauf angesetzt. Die hat diese Sätze durchsucht und dann auch entsprechende Ergebnisse erbracht. Es erleichtert hier unsere Arbeit und schafft auch eine höhere Objektivität. 

Start des fünften Adoratio-Kongress für eucharistische Anbetung in Altötting / © Stefanie Hintermayr/pbp
Start des fünften Adoratio-Kongress für eucharistische Anbetung in Altötting / © Stefanie Hintermayr/pbp

DOMRADIO.DE: Eine Schlussfolgerung aus Ihrer Studie ist, dass interne Diskussion und soziale Arbeit allein nicht weiterführen. Die Kirche müsse den Menschen die Tür zur Transzendenz öffnen, wie es der Soziologe Niklas Luhmann forderte. Also heißt das jetzt doch wieder mehr beten und fromm sein? 

Elmar Nass

"Beten und fromm sein ist ja zunächst mal nicht schlecht. Aber das alleine ist es natürlich nicht."

Nass: Beten und fromm sein, ist ja zunächst mal nicht schlecht. Aber das alleine ist es natürlich nicht. Aber es ist tatsächlich eines unserer Ergebnisse, eine der Grundthesen, die wir am Ende aufstellen, dass wir in der Kirche wieder auf unser eigenes Thema schauen sollten. Als Ökonom sage ich auch, dass Nachfrage und Angebot zusammenkommen müssen.

Wir haben herausgefunden, dass es offenbar eine Nachfrage der Menschen ist, dass sie mit dem Thema Transzendenz und Leben nach dem Tod positive Gedanken verbinden. Das ist den Menschen wichtig. Darüber wollen sie mehr wissen. Das spricht Menschen heutzutage an.

Daher glauben wir, dass hier ein wichtiger Aspekt noch mehr wieder in den Mittelpunkt der Verkündigung treten sollte, der vielleicht in der Vergangenheit ein wenig zu kurz gekommen ist.

DOMRADIO.DE: Sie fordern als Fazit unter anderem eine Kultur neuer Glaubwürdigkeitspraxis ein. Das tun doch auch diejenigen, die Strukturfragen diskutieren, was Sie dann wiederum kritisieren. Könnte man nicht auf unterschiedlichen Wegen gemeinsam zu einer neuen Glaubwürdigkeitspraxis finden?

Nass: Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Ich verstehe die Ergebnisse unserer Studie als einen komplementären Weg. Natürlich müssen sich auch Strukturen innerhalb der Kirche ändern. Wir wissen alle, dass vieles aufgearbeitet werden muss. Das steht nicht zur Diskussion, dass das notwendig ist.

Nur haben wir jetzt herausgefunden, dass allein die Beschäftigung mit Machtfragen, mit Strukturfragen nicht ausreicht. Das sehen wir auch an den Zahlen, dass wir damit Menschen nicht begeistern, sondern wir müssen auch wieder mit positiven Dingen Menschen ansprechen. Zum einen müssen wir die Transzendenzthematik auch wieder in die Pastoral hineinbringen.

Elmar Nass

"Menschen unterschiedlicher Meinungen haben nicht miteinander geredet. Vielmehr haben sie auch gegeneinander in der Theologie, in der Kirche agiert."

Zum Zweiten aber ist es ganz wichtig, dass sich die Glaubwürdigkeit von Kirche nicht nur in Themen und der Theorie zeigt, sondern dass sie sich auch im Umgang miteinander zeigt. Da ist in der Vergangenheit auch manches falsch gelaufen, auch innerhalb der Kirche. Menschen unterschiedlicher Meinungen haben nicht miteinander geredet. Vielmehr haben sie auch gegeneinander in der Theologie, in der Kirche agiert. Das kriegen die Menschen heute mit.

Genau das gilt es zu überwinden. Deswegen gibt es von uns aus ein Angebot, sich auch in diese Richtung miteinander die Hand zu reichen und direkt die Ergebnisse der Studie umzusetzen und komplementär an einer neuen Glaubwürdigkeit zu arbeiten.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

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Symbolbild Kirchenaustritt / © Julia Steinbrecht (KNA)
Symbolbild Kirchenaustritt / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR