DOMRADIO.DE: Schockieren Sie solche Zahlen noch oder hat man sich mit dem Abwärtstrend, keine Volkskirche mehr zu sein, abgefunden?
Pastor Stephan Lackner (Leiter der evangelischen Wiedereintrittsstelle "Kirche im Blick" in Hannover): Die Zahlen machen immer ein bisschen traurig, das ist klar. Das ist nicht schön zu wissen, dass man kleiner wird. Vor allem machen sie auch nachdenklich. Man überlegt sich, was die Gründe für den Austritt sind. Das alles ist kein Grund zu ausgelassener Freude.
DOMRADIO.DE: In der katholischen Kirche werden häufig Missbrauchsskandale als Austrittsgrund angeführt. Im Januar wurde das Gutachten zum Thema sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche, die ForuM-Studie veröffentlicht. Erwarten Sie für das laufende Jahr 2024 vielleicht noch eine viel größere Austrittswelle als 2023 und 2022?
Lackner: Das weiß ich nicht. Das kann ich Ihnen ehrlich gesagt nicht sagen. Meine Meinung in Bezug auf Austritt und Eintritt ist: Wenn eine Beziehung zur Kirche verloren gegangen ist, dann liegt es nahe, auch eine Kirchenmitgliedschaft aufzukündigen. Wenn sich eine Beziehung zur Kirche anbahnt oder da ist, dann ist auch die Frage des Eintritts ganz wichtig. So erlebe ich das in der Wiedereintrittsstelle.
DOMRADIO.DE: Auf evangelischer Seite probieren Sie viel aus – etwa Candle-Night-Trauungen oder das Stadionsingen zu Weihnachten. Das scheint alles nicht auszureichen, um heute attraktiv zu sein. Was müsste sich denn aus Ihrer Sicht ändern, um Menschen heute noch anzusprechen? Muss man da zum Beispiel mehr missionieren?
Lackner: Nein. Ich glaube, dass die Gleichsetzung, dass der Austritt "ich bin unzufrieden mit Kirche" bedeutet, nicht stimmt. Es gibt berechtigte Gründe und Kritik an der Kirche und die können auch zum Austritt führen. Diese hohe Zahl an Austritten ist aber nicht gleichzusetzen mit Unzufriedenheit, weil die Kirche so schlecht arbeitet.
Ich glaube, dass wir in einer gesellschaftlichen Strömung sind, dass eine ewig dauernde Bindung zu einem Verein, ein Abo einer Zeitung, ein Klub, öffentlich-rechtliches Fernsehen, nicht mehr gewährleistet ist.
Viele gesellschaftliche Einrichtungen und Institutionen erleben, dass Menschen sagen: Nein, es muss keine lebenslange Bindung bestehen. Das ist entscheidend. Deswegen nehmen Zeitungs-Abos und die Quoten ab und deshalb leiden die Sportvereine darunter, ohne dass es gleichzusetzen ist. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen macht eine tolle Arbeit. Der Journalismus macht eine tolle Arbeit. Die Klubs machen eine tolle Arbeit. Das ist nicht immer gleich Kritik, "weil ihr schlecht seid." Das ist das eine.
Ich glaube aber auch, dass wir als Kirche durchaus noch attraktiver werden können und uns dazu auch neue Formen ausdenken. Mein Grundsatz ist: Die Kirche ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Kirche.
Wenn es mir gelingt, als Kirche deutlich zu machen, dass ich für den Menschen da bin und auch ein Format finde, wo er das spürt, dann ist er ganz bei der Kirche. Das merken wir bei den Candle-Night-Trauungen. Da haben wir ein Format gefunden, das genau das ist, was man sich wünscht.
DOMRADIO.DE: Da kriegen Sie also gute Rückmeldungen, dass das den Menschen gefällt und dass es zeitgemäßer ist?
Lackner: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, dass die Kirche auch gesellschaftlich sehr anerkannt ist, gerade in ihrem sozialen, diakonischen Verhalten. Gerade wenn ich daran denke, wie wir mit Schicksalsschlägen umgehen, wenn Katastrophen passieren und Ereignisse dramatischer Art passieren. Wo finden wir Worte, wo finden wir Räume, wo finden wir Möglichkeiten, damit umzugehen?
Plötzlich ist eine ganz große Zufriedenheit und Offenheit und Dankbarkeit dafür da, dass es so eine Institution wie die Kirche gibt, die einen Gedenkgottesdienst macht, die Kerzen anzündet und die Worte findet.
DOMRADIO.DE: Es gibt nicht viele, die eintreten oder auch wieder eintreten wollen. 20.000 Aufnahmen zählte die EKD im letzten Jahr. Welche Erfahrungen machen Sie denn in der Wiedereintrittsstelle? Welche Motivation steckt dahinter?
Lackner: Ich darf die Zahl noch mal korrigieren. Unter Aufnahmen sind es 20.000, ja, aber wir müssen zum Beispiel noch 12.000 Erwachsenentaufen dazuzählen. Das heißt Menschen, die sich bewusst für den Eintritt in eine Kirche entscheiden und weil sie noch nicht getauft sind, sich zur Erwachsenentaufe entscheiden.
Wir haben über 30.000 Menschen, die sich bewusst ab Konfirmationsalter aufwärts, also im religionsmündigen Alter, für den Eintritt in eine Kirche entscheiden. Ich finde, dass ist auch eine medial durchaus zu veröffentlichende Zahl. Das ist doch allerhand, 31.000 pro Jahr, die sagen: Ich möchte bewusst dazugehören.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen mit diesen Menschen. Manchmal geht es um ganz pragmatische Gründe, zum Beispiel dass man einen kirchlichen Arbeitgeber hat. Aber erleben Sie auch Menschen, die aus Überzeugung sagen, sie möchten bewusst diesen Schritt gehen?
Lackner: Durchaus. Es baut sich eine Beziehung auf. Kirche wird wieder relevant. Es kann ja sein, dass die Kirche im Alter zwischen 20 und 35 für mich nicht so relevant ist, weil ich studiere, weil ich Berufsanfänger bin oder weil ich gerade geheiratet habe oder weil ich ein Haus baue und mein Kopf jetzt ganz woanders ist. Dann bekomme ich ein Kind – und plötzlich denke ich: Das ist doch schön, wenn das getauft wird.
Oder mein allerbester Freund sagt: Du sollst Pate meines Kindes werden. Ich sage ihm: Du, ich bin nicht mehr in der Kirche drin. Aber dann bahnt sich wieder etwas an. Die Kirche hat eine Bedeutung. Um Pate zu sein, bin ich dann in der Kirche – und ich möchte ein guter Pate sein.
Es ist also ein Anlass. Aber hinter dem Anlass steckt plötzlich viel mehr, weil da etwas wachgerüttelt wird, was verschüttet war. So erlebe ich das auch bei Menschen, die sagen, ich trete jetzt ein, weil ich Pate werde. Es gibt natürlich auch welche, die treten dann schnell wieder aus. Es gibt aber auch genau das andere.
Oder wenn die Kirche ein Arbeitgeber ist, auch da wird eine Beziehung zur Kirche wieder deutlich. Ich könnte auch eine andere Einrichtung wählen. Das gibt es. Es gibt aber auch Menschen, die sagen, sie singen da im Chor mit oder sie sind da ehrenamtlich engagiert und haben das so toll empfunden, wie sie aufgenommen wurden. Sie fühlen sich jetzt so wohl, dass sie gar nicht wissen, warum sie nicht Mitglied in der Kirche sind. Sie treten dann wieder ein.
Das kann auch hervorgerufen sein durch eine Krankheit, die überstanden worden ist. Das kann hervorgerufen sein durch einen Kreis, den man besucht und wo man plötzlich wieder Zugang zu spirituellen Erfahrungen gefunden hat und wo man dann sagt, da möchte ich gerne dazugehören.
Und es gibt den Kreis der Leute, die sagen: In der augenblicklichen gesellschaftlichen Situation ist es mir wichtig, etwas zu unterstützen, was Werte vermittelt; darum möchte ich gerne wieder eintreten.
Das Interview führte Elena Hong.