Geistliche Begleiterin erklärt Anstieg der Kirchenaustritte

Ja zum Glauben, Nein zur Kirche

Angesichts des Rekordhochs der Austrittszahlen befindet sich die Kirche im freien Fall. Besonders schmerzlich ist, dass sich auch viele aus dem "inneren Kreis" von ihr abwenden. Was müsste sich ändern, um diese Entwicklung zu stoppen?

Leere Stühle in einer Kirche / © MASSIMILIANO PAPADIA (shutterstock)
Leere Stühle in einer Kirche / © MASSIMILIANO PAPADIA ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Frau Gasper, 2021 haben Sie sich in Oberberg an einem spirituellen Gesprächsangebot beteiligt, bei dem es darum ging, Menschen nachzugehen, die sich von der Kirche verabschiedet haben. Damit sollten diese ein Forum für ihre Kritik, ihre Sorgen, Fragen, Glaubenszweifel, Nöte und Wünsche bekommen. Seitdem sind die Kirchenaustrittszahlen noch einmal exorbitant in die Höhe geschossen. Führen Sie solche Gespräche noch?

Edith Gasper ist Geistliche Begleiterin und Exerzitienleiterin / © Beatrice Tomasetti (DR)
Edith Gasper ist Geistliche Begleiterin und Exerzitienleiterin / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Edith Gasper (Geistliche Begleiterin und Exerzitienleiterin): Ja, allerdings war der Zulauf zu Beginn des Projektes stärker. Inzwischen führe ich diese Art Gespräche mehr in anderen Kontexten, zum Beispiel innerhalb der geistlichen Begleitung. Dabei geht es mittlerweile zunehmend um die Frage: Kann bzw. will ich meinen Glauben noch in dieser Kirche leben? Meistens ist da die Entscheidung gegen die Institution Kirche bereits gefallen. Allerdings suchen viele nach einem alternativen Raum für ihren Glauben, der ja nicht weg ist. Meist geht es darum, zu dieser Kirche nicht mehr stehen zu wollen. Das heißt, seit ein paar Jahren trennen die Menschen noch einmal klarer zwischen ihrem persönlichen Glauben auf der einen und der Kirche auf der anderen Seite.

Am Anfang sind vielleicht die gegangen, die finanzielle Gründe ins Feld geführt und den Nutzen ihrer Kirchenzugehörigkeit nicht mehr gesehen haben, aber zuletzt sind es ja auch die gewesen, die sich engagiert haben und denen dieses kirchliche Engagement wichtig war. Entsprechend intensiver sind bei ihnen Enttäuschung und Trauer. Aber sie glauben eben auch, dass sie nur mit ihrem Austritt ein deutliches Zeichen setzen können.

DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Edith Gasper

„Diese Menschen wollen sich einfach nicht mehr zur Verfügung stellen und auch nicht mehr für diese Kirche stehen. Schon lange geht es nicht mehr darum, Dampf abzulassen…“

Gasper: Diese Menschen wollen sich einfach nicht mehr zur Verfügung stellen und auch nicht mehr für diese Kirche stehen. Schon lange geht es nicht mehr darum, Dampf abzulassen – das war früher vielleicht der Fall – sondern mehr um eine grundsätzliche Reflektion: Wie kann ich das überhaupt noch mit meinem Gewissen vereinbaren? Wo ist meine Motivation, noch in dieser Kirche zu bleiben? Meistens ist es die persönliche Glaubensanfrage, die die Menschen beschäftigt. Daher suchen sie eine Ebene, auf der sie über ihren Glauben sprechen können. Und dann höre ich ganz oft: Wenn es solche Gespräche doch mal öfter gäbe…

DOMRADIO.DE: Also ist der Bedarf an geistlichem Austausch zum Thema Gehen oder Bleiben da?

Gasper: Auf jeden Fall. Das zeigt mir auch meine Arbeit im Kontext von „Exerzitien im Alltag“, Familienexerzitien oder anderen Begleitgesprächen. Geistliche Begleitung ist ja nichts für besonders heilige Menschen, sondern für jeden Christen, der das Angebot nutzen möchte, mit jemand anderem auf seinen Lebens- und Glaubensweg zu schauen. Wie gesagt, für die meisten ist ja der Glaube nicht weg, aber die Enttäuschung, der Schmerz oder auch die Wut über die Kirche sind eben sehr groß.

DOMRADIO.DE: Das eine ist sicher, sich anzuhören, was die Menschen bewegt, wenn sie die Kirche verlassen, und sie in ihrer Entscheidung ernst zu nehmen. Aber damit allein ist es ja noch nicht getan. Wie verlaufen solche Begegnungen und was halten Sie argumentativ dagegen?

Symbolbild christlicher Glaube / © Ben Photo (shutterstock)
Symbolbild christlicher Glaube / © Ben Photo ( shutterstock )

Gasper: Wir sind schon lange nicht mehr an dem Punkt, wo es noch um den Austausch von Argumenten geht. Sicher gibt es gute Gründe, um in der Kirche zu bleiben, aber leider gibt es auch viele gute Gründe dagegen. Und deshalb ist das nicht die Ebene, auf der ich mit denen, die kommen, Gespräche führe. Letztlich geht es darum, dass wir gemeinsam im Glauben unterwegs sind. Und da fragen sich viele: Was heißt das eigentlich (noch) für mich? Was hat das mit meinem Leben zu tun? Und wenn ich gefragt werde „Warum bleiben Sie?“, dann spreche ich von meinem persönlichen Glauben und dem Benefit für mein Leben, den mir mein Glaube und die Kirche geben: zum Beispiel die Erfahrung von Gemeinschaft. Es geht überhaupt nicht mehr um sachliche Begründungen; vielmehr tauschen wir unsere Erfahrungen, Schwierigkeiten und Verletzungen aus.

Edith Gasper

„Mit einem Austritt wird oft das Gefühl von Ohnmacht bekämpft und das einzig sichtbare Zeichen gesetzt, mit dem, was Kirche vertritt oder wie sie sich darstellt, nicht einverstanden zu sein.“

Die Argumente pro Kirche haben diese Menschen alle schon erwogen, und deshalb sind sie bisher auch noch geblieben – trotz Bauchschmerzen aufgrund schlechter Erfahrungen. Im Zentrum steht die Frage: Wie kann ich bleiben, oder was ist für mich persönlich noch wichtig? Mit einem Austritt wird oft das Gefühl von Ohnmacht bekämpft und – wie gesagt – das einzig sichtbare Zeichen gesetzt, mit dem, was Kirche vertritt oder wie sie sich darstellt, nicht einverstanden zu sein. Die meisten sind sehr reflektiert, aber immer wieder erlebe ich auch eine große Emotionalität und Betroffenheit. Es gibt Menschen, die weinen, aber genauso begegnet mir Wut. Immer geht es um heftige Emotionen. Denn die jetzt der Kirche den Rücken kehren, leiden meist sehr darunter, dass es für sie keinen sichtbaren Weg in dieser gegenwärtigen Kirche gibt.

DOMRADIO.DE: Geistliche Begleitung ist ein wesentlicher Teil von Seelsorge. Wie erleben Sie die Menschen, die schon ausgetreten sind, und diejenigen, die noch mit sich ringen und zumindest vorher mit einem Gespräch noch in die inhaltliche Auseinandersetzung gehen?

Gasper: Diese beiden Gruppen lassen sich gar nicht klar voneinander unterscheiden. Menschen, die bereits entschieden sind, haben dann Klarheit. Aber es bleiben immer auch eine Sehnsucht und die Erinnerung an das viele Schöne, zum Beispiel eben die Gemeinschaft. Und die, die noch das Gespräch suchen, um diese Klarheit zu gewinnen, sind oft sehr dankbar, noch einmal von jemand anderem zu hören, was ihm der Glaube für sein Leben bedeutet, wenn hier Leben, Glaube und Kirche auch nicht einzeln aufgeschlüsselt werden. Jedenfalls versuche ich immer zu vermitteln, dass für mich gerade diese Einheit gut ist. An dieser Stelle selbst ein Glaubenszeugnis zu geben ist das Einzige, was überhaupt Sinn macht.

DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie bleiben nie unbeteiligt und schauen von draußen darauf…

Gasper: Genau, deswegen mache ich ja geistliche Begleitung. Das ist einer der Gründe, warum ich gut in Kirche sein kann, eben weil das für mich eine Berufung ist, mit anderen im Glauben unterwegs zu sein – unabhängig davon, dass ich dafür auch eine offizielle Qualifizierung mitbringe. Natürlich kann ich auch ein freundschaftliches Gespräch führen – und das mache ich auch oft in meinem persönlichen Umfeld. Aber grundsätzlich ist geistliche Begleitung doch auch meine Ecke, in der ich Kirche sehr positiv erlebe und versuche, meinen Beitrag zu leisten, eben indem ich über den Glauben spreche, was mir ein Herzensanliegen ist.

Auch viele junge Menschen denken über einen Austritt nach / © Pixel-Shot (shutterstock)
Auch viele junge Menschen denken über einen Austritt nach / © Pixel-Shot ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Was machen denn solche Gespräche mit Ihnen? Ich stelle mir vor, dass es in diesen schwierigen Zeiten einen erheblichen Kraftaufwand bedeutet, für die Vermittlung der Frohen Botschaft einzutreten. Den meisten sind die Themen Glaube und Kirche inzwischen ja schlichtweg egal…

Gasper: Gerade deshalb ist es wichtig, auch immer wieder mit Kolleginnen und Kollegen im Austausch, gemeinsam unterwegs zu sein und hier einen – ja – Glaubensspirit und eine gewisse Begeisterung in der Gruppe zu erleben, eben Glaubenserfahrungen zu teilen, wovon dann alle auch sagen können: Das ist für mich Kirche. Da können wir weitermachen, Kraft schöpfen und einen Weg finden.

DOMRADIO.DE: Ist es nicht genau das – nämlich das Sprechen über den eigenen Glauben – was in den Gemeinden schon seit langem viel zu kurz kommt?

Gasper: Wobei andererseits die Crux dann wieder ist, dass vermutlich niemand kommt, wenn ich einen Bibelkreis anbiete. Dafür müsste sich zunächst das Bewusstsein aller, die dieselbe Sehnsucht in sich tragen, ändern. Ich selbst bin nicht darauf fokussiert, die Kirche zu verteidigen oder meinen Gesprächspartner von Kirche zu überzeugen. Mein Credo ist vielmehr, noch eine weitere Facette zu dem, was sich der andere ohnehin schon überlegt hat, dazu zu legen, nämlich bei einer Glaubenserfahrung zu helfen: bei der persönlichen Beziehung zu Gott und der zu Jesus. Denn über die Sehnsucht erreicht man den anderen schon. Niemand hat ja plötzlich seinen Glauben verloren. Tatsächlich macht sich vieles an der Institution fest. Für mich habe ich auch ganz klar entschieden, dass ich nicht die Institution Kirche oder ihre Strukturen verteidige. Mir geht es um den Glauben und darum, klar zu machen, dass Kirche sehr viel mehr ist als das, was in den Medien erscheint. 

Edith Gasper

„Es ist manchmal sehr traurig, was Menschen mit Kirche erlebt haben, weil dadurch die schöne Botschaft, die wir verkünden sollen, in den Hintergrund gedrängt wird.“

Natürlich gibt es objektive Fakten wie den Missbrauch, aber die Menschen haben oft ganz persönliche Erfahrungen mit Kirche gemacht. Und schlechte Erfahrungen kann und will ich nicht wegdiskutieren, die sind ja einfach da. Die kann ihnen auch niemand absprechen, weil sie das gleiche Recht auf ihre Erfahrungen haben wie ich auf meine guten. Mir macht das, was ich zu tun habe, Freude. Denn ich erzähle ja von dem, was mich erfüllt. Der Glaube und die Beziehung zu Jesus sind für mich ganz entscheidend. Immer wieder erlebe ich, dass jemand total überrascht ist, dass ihm überhaupt mal jemand zuhört, er etwas erzählen konnte. Viele sagen, sie docken nirgendwo mehr an, es gäbe keinen Raum mehr für sie. Von daher erlebe ich meine Arbeit auch nicht als frustrierend oder als anstrengend, sondern als herausfordernd. Es ist eher manchmal sehr traurig, was Menschen mit Kirche erlebt haben, weil dadurch die schöne Botschaft, die wir verkünden sollen, in den Hintergrund gedrängt wird.

Symbolbild Dorfkirche in Bayern / © Benjamin Rosner (shutterstock)
Symbolbild Dorfkirche in Bayern / © Benjamin Rosner ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Viele Gläubige, vor allem auch die bislang hoch engagierten, wollen sich heute nicht mehr gängeln lassen. Viele erleben statt eines authentischen oder charismatischen Seelsorgers Kleriker mit einem überkommenen Amtsverständnis und wenden sich auch deswegen ab. Was glauben Sie, ist die Kirche noch zu retten?

Gasper: In jedem Fall. Ich glaube, dass es Kirche immer geben wird. Jesus Christus hat uns zugesagt, dass die Mächte der Unterwelt sie nicht überwinden werden. Für mich ist aber auch klar, dass Jesus mir nicht aufgetragen hat, darum zu kämpfen, die kirchlichen Strukturen, wie sie jetzt bestehen, zu erhalten. Ich bin beauftragt, hinaus in alle Welt zu gehen und das Evangelium zu verkünden. Das heißt für mich, den Menschen sichtbar zu machen, dass Gott sie liebt und dass sie erlöst sind. In diesem Sinne wird die Kirche überleben, denn der Heilige Geist wird bleiben. Ich selbst habe mich jedenfalls davon verabschiedet, eine bestimmte Form von Kirche um jeden Preis erhalten zu wollen.

DOMRADIO.DE: Können Sie dem denn eine Vision von Kirche entgegensetzen?

Gasper: Jedenfalls können und sollten wir viel mehr auf den Heiligen Geist vertrauen. Und wenn wir den Mut haben, in diesem Vertrauen zusammen unterwegs zu sein wie damals Petrus und Paulus, die auch ganz unterschiedlicher Meinung waren – und da ging es nicht um Gremienarbeit, Kirchenpolitik und Macht – dann spüren wir auch weiterhin den Ruf Gottes an uns, was wir tun sollen. Wir alle – und nicht nur die Priester und Hauptamtlichen – müssen vielleicht den Schalter umlegen und mit einem neuen Sendungsbewusstsein unterwegs sein. Wenn es nach Paulus geht, hat ja ohnehin jeder eine besondere Gabe, die dem Wohl aller dient. Und wenn alle diese Gaben zusammen zur Geltung kommen, dann geht etwas voran. Dann gibt es eine Gemeinschaft, dann gibt es Glaubenserfahrung und dann gibt es Kirche.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Kirchenstatistik weist hohe Austrittszahlen aus

Die katholische Kirche in Deutschland ist 2022 erneut stark geschrumpft. 522.821 Menschen traten aus der Kirche aus - so viele wie nie zuvor. Dies geht aus der von der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn veröffentlichten allgemeinen Kirchenstatistik hervor. Insgesamt liegt die Mitgliederzahl nun bei rund 20,9 Millionen.

Symbolbild Kirchenaustritt / © Elisabeth Rahe (KNA)
Symbolbild Kirchenaustritt / © Elisabeth Rahe ( KNA )
Quelle:
DR