Lebensberaterin sieht Gewissenskonflikt beim Kirchenaustritt

"Verstört in ihrem Vertrauen in die Amtskirche"

Weiterhin treten viele Menschen aus der Kirche aus. Heidi Ruster erlebt oft, wie sehr diese Menschen mit sich ringen. Sie erklärt, was sie in Gesprächen erlebt und warum viele nach dem Austritt weiter am Gemeindeleben teilnehmen.

Symbolbild Kirchenaustritt (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Wie soll ich mich positionieren? Austreten ja oder nein? Das sind Fragen, die sich aktuell viele Menschen stellen. Wie können wir Menschen jetzt helfen, bei diesem Prozess eine persönlich richtige Entscheidung zu treffen?

Heidi Ruster / © Anja Sabel / Kirchenbote Osnabrück
Heidi Ruster / © Anja Sabel / Kirchenbote Osnabrück

Heidi Ruster (Leiterin der Katholischen Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in Bonn): In jedem Fall durch Unterstützung, mit Zuhören, Interesse zeigen, im Gespräch bleiben oder sich selbst einbringen, sich positionieren. Ich habe natürlich nur mit Menschen gesprochen, die sich schwertun mit dieser Entscheidung.

Diese Menschen sind oft sehr nachdenklich, reflektiert in ihrer Ambivalenz, erzählen einerseits von ihrem engagierten Glaubensleben und vom Einsatz in der Gemeinde voller positiver Gefühle. Andererseits sind sie massiv verstört in ihrem Vertrauen in die Amtskirche.

Es ist ja nicht nur die erschreckend hohe Zahl der Missbrauchsfälle durch die Amtsträger weltweit, es ist besonders der Umgang der Institution mit dieser Schuld und der Umgang mit den Opfern, was immer wieder Thema wird. Es ist aber auch diese unverrückbare, ausschließende Einstellung der Kirche zur Homosexualität, zu Wiederverheiratet-Geschiedenen oder zur Weihe für Frauen.

Es gibt allgemein ein großes Unverständnis für die hierarchische Abstufung zwischen den Klerikern und den Laien. Es sind viele, die mir von ihrem Glaubensleben erzählen, wo sie sich ein Leben lang für Reformen eingesetzt haben, auf den Synodalen Weg beispielsweise gehofft haben und sich sehr getäuscht sehen beziehungsweise mit dem Hinweis auf eine weltkirchliche Entscheidung, die noch ansteht, hingehalten fühlen.

Es gibt viele, die auch sehr traurig sind, dass ihre Gotteshäuser vor Ort geschlossen wurden. Das haben sie als große Enttäuschung erlebt und fühlen sich von den Anordnungen übergangen. Ein Wortgottesdienst am Sonntagmorgen ist nach wie vor nicht gestattet. Laien werden in ihre Schranken verwiesen.

Dazu kommt auch, dass diese Menschen oft angefragt werden aus ihrem engsten Kreis, aus der Familie. Die Kinder und Kindeskinder wenden sich ab und fragen: Wie könnt ihr noch da bleiben? Diese Kinder haben längst den Kontakt zum Glauben verloren und das ist für die Menschen auch eine schmerzliche Traurigkeit.

Die Kirche ist eben nicht mehr der selbstverständliche Ort für die Familien. Es ist ein Stück Verlust. Es geht auch um Heimat. Das ist ein schmerzlicher Prozess. Während solcher Gespräche fließen nicht selten Tränen.

Heidi Ruster

"Es gibt natürlich nicht wenige, die auch schon länger aus der Kirche ausgetreten sind, aber trotzdem ganz treu am Leben in ihrer Gemeinde festhalten."

DOMRADIO.DE: Wie gehen Gläubige mit der Situation in der Kirche um? Für viele ist das eine ganz wichtige Lebensfrage: Wie positioniere ich mich da? Das ist ein Prozess, das kann man nicht mal eben so entscheiden, oder?

Ruster: Nein, das dauert, das braucht auch Zeit. Und es ist wirklich auch anrührend zu sehen, wie diese Auseinandersetzung stattfindet. Das ist sehr authentisch. Es gibt welche, die entscheiden, dann eben nicht auszutreten, sondern aufzutreten, wie sie sagen. Die kämpfen dann nach wie vor um ein neues Gesicht ihrer Kirche. Es geht auch um Liebe und Liebesbeziehung.

Es gibt natürlich nicht wenige, die auch schon länger aus der Kirche ausgetreten sind, aber trotzdem ganz treu am Leben in ihrer Gemeinde festhalten. Auch mit dem Wissen der Gemeinde und der Ortsgeistlichkeit. Sie haben damit ihren persönlichen Frieden geschlossen.

Andere sind ausgetreten und haben sich nach neuen christlichen Gemeinden umgeguckt und sich denen angeschlossen. Die sind mehr oder weniger zufrieden.

DOMRADIO.DE: Kann ich das, was in der Institution Kirche los ist, abkoppeln von meinem Glauben?

Ruster: Früher hat es ja geheißen: Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Aber das gilt für die Menschen heute nicht mehr. Sie halten es mit ihrem persönlichen Glauben. Jesus ist der Weg. Immer mehr suchen nach einer eigenen Spiritualität und können das sehr wohl von der Institution Kirche abkoppeln.

In der Auseinandersetzung mit der Frage "Bleiben oder Gehen?" treffen viele eine richtig wichtige religiöse Entscheidung. Der Austritt bedeutet die Kündigung für diese Menschen eigentlich einen Austritt aus einer Vereinsmitgliedschaft. Sie kündigen ihren Vereinsbeitrag auf. Es bedeutet nicht den Austritt aus der Gemeinschaft der Getauften, der Glaubenden.

DOMRADIO.DE: Wem kann ich noch glauben? Wie viel Vertrauen habe ich noch in die Kirche? Auch das ist sicher eine Frage, die sich viele Menschen derzeit stellen.

Ruster: Bei vielen konservativen Kirchenführern, die an der alten Gestalt von Kirche festhalten, hat man oft den Eindruck, es geht ihnen um das System und um die Machterhaltung.

Auf der anderen Seite zeigen sich auch gerade in dieser krisenhaften Zeit im Ringen um die Frage des Kirchenaustritts viele glaubwürdige und authentische Menschen in der Kirche, auch unter den Amtsträgern. Da gibt es auch noch mal ein neueres religiöses Interesse. Man spricht wieder mal über den Glauben.

Heidi Ruster

"Es gibt sehr viel Gutes in der Kirche, großartige Menschen, auch funktionierende Gemeinschaften."

DOMRADIO.DE: 'Vorschnelles Handeln ist auch nicht unbedingt der richtige Weg, denke ich.' 'Es gibt ja in der katholischen Kirche auch viel Gutes.' Diese Sätze habe ich auch schon häufig gehört in diesem Zusammenhang.

Ruster: Es gibt sehr viel Gutes in der Kirche, großartige Menschen, auch funktionierende Gemeinschaften, engagierte Christinnen und auch sehr gute Einrichtungen. Ich denke da zum Beispiel an die katholische Beratungsstelle für Familien-, Ehe- und Lebensfragen. Viele, die austreten, widmen ihre Kirchensteuer gezielt diesen guten Einrichtungen innerhalb der Kirche, manche auch außerhalb.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn bei so einem Gewissenskonflikt das eigene Umfeld der Menschen?

Heidi Ruster

"Glaube ist vor allen Dingen eine persönliche Angelegenheit."

Ruster: Das ist auch ein großer Gewissenskonflikt, ein großer Anteil an diesen ganzen Gewichtungen: Füge ich mir wichtigen Personen in der Familie, aber auch in der Gemeinde eine große Enttäuschung mit diesem Austritt zu? Welche Menschen entmutigte ich auch und welche Beziehung gefährde ich? Das ist wirklich eine harte Nuss.

Dazu kann man eigentlich nur sagen: Glaube ist vor allen Dingen eine persönliche Angelegenheit. Es kommt darauf an, authentisch zu sein und mit sich selbst eins zu sein. Dieses persönliche Glaubenszeugnis kann man dann auch vertreten.

Man muss ja nicht hoffen, dass die anderen sich anschließen oder das als ein Plädoyer für alle als Normatives hinstellen. Von wegen: Man muss jetzt austreten. Sondern man muss es auf seine Kappe nehmen. Dann ergeben sich sehr fruchtbare Gespräche über den Glauben und die Kirche.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Kirchenstatistik weist hohe Austrittszahlen aus

Die katholische Kirche in Deutschland ist 2022 erneut stark geschrumpft. 522.821 Menschen traten aus der Kirche aus - so viele wie nie zuvor. Dies geht aus der von der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn veröffentlichten allgemeinen Kirchenstatistik hervor. Insgesamt liegt die Mitgliederzahl nun bei rund 20,9 Millionen.

Symbolbild Kirchenaustritt / © Elisabeth Rahe (KNA)
Symbolbild Kirchenaustritt / © Elisabeth Rahe ( KNA )
Quelle:
DR