Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz twitterte am Nachmittag, 20 Busse und 13 Krankenwagen seien dabei, die Frontlinie bei Ost-Aleppo zu überqueren. Zuvor hatte die Organisation mitgeteilt, die Evakuierung von etwa 200 Verwundeten laufe, darunter Schwerverletzte. Der britische Sender BBC berichtete, die ersten Fahrzeuge hätten den Übergabe-Ort erreicht. Gesicherte Zahlen gab es zunächst nicht.
Die Evakuierung war von der Angst vor Zwischenfällen begleitet, da frühere Feuerpausen kollabiert waren. Der humanitäre UN-Berater für Syrien, Jan Egeland, erklärte in Genf, er hoffe auf eine erfolgreiche und störungsfreie Evakuierung der ehemaligen Rebellenhochburg Ost-Aleppo. Konkrete Zahlen nannte er nicht, sprach aber von Tausenden Menschen. "Das Fenster, das wir jetzt haben, werden wir nie wieder bekommen", twitterte er.
EU-Beschluss nicht zu erwarten
Der britische Sender BBC übermittelte Bilder des syrischen Staatsfernsehens von einem Konvoi grüner Busse und weißer Krankenwagen, die Ost-Aleppo verlassen. "4.000 Rebellen und ihre Familien sollen am Donnerstag aus östlichen Distrikten evakuiert werden", hatte das Fernsehen zuvor erklärt. Im belagerten Ostteil der Stadt, den Rebellen kontrolliert hatten, harrten bis zuletzt Zehntausende Menschen unter katastrophalen Umständen aus.
Die EU will auf ihrem Gipfel in Brüssel das syrische Regime und Russland auffordern, humanitäre Hilfe in Aleppo und Evakuierungen zu ermöglichen. Ein Beschluss über Sanktionen gegen Russland sei vom Gipfel nicht zu erwarten, sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vor Beginn des Treffens der Staats- und Regierungschefs. Man versuche aber besonders, international Einfluss zu nehmen, auch auf den Iran. Zu Syrien sagte sie: "Es ist klar, dass das Regime und seine Alliierten, Russland und Iran, eine Verantwortung für das haben, was passiert ist und was passiert in Aleppo."
Europäischer Rat: "Die Kämpfe müssen eingestellt werden"
Der Europäische Rat verurteile "nachdrücklich" den Sturmangriff auf Aleppo, "einschließlich der gezielten Angriffe auf Zivilpersonen und Krankenhäuser", heißt es in einem Entwurf für die Erklärung des EU-Gipfels. Das Dokument lag dem Evangelischen Pressedienst (epd) vor. Die Kämpfe müssten sofort eingestellt werden, heißt es darin. Verantwortliche für Verstöße gegen das Völkerrecht sollen zur Rechenschaft gezogen werden.
Hilfswerke bitten indes dringend um Spenden für die Menschen in Syrien. Die katholische Hilfsorganisation Caritas international sprach von einer katastrophalen Situation für die Menschen in Aleppo. Man habe derzeit keinen Zugang zum heftig bombardierten Ostteil der Stadt, sagte ein Sprecher der "Südwestpresse". Krankenhäuser seien zerstört oder ohne Strom. Zudem gebe es kaum noch Medikamente.
Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, sagte, die Helfer leisteten "buchstäblich Überlebenshilfe". Der Bedarf sei immens, aber ein Mangel an Sicherheit erschwere die humanitäre Hilfe "gravierend". Rund 50.000 Menschen seien in den vergangenen Tagen in den Westen der Stadt geflohen. Viele von ihnen kämen in eilig hergerichteten notdürftigen Schlafstätten unter und schliefen oftmals auf dem Fußboden.
Misereor: Der Krieg geht weiter
Das katholische Hilfswerk Misereor verwies darauf, dass der Krieg auch nach der Eroberung von Aleppo weitergehe. Astrid Meyer, Misereor-Referentin für Syrien, äußerte sich im domradio auch zur Situation vor Ort. Es sei "enorm schwierig und ein enormer Druck, zu wissen, dass man mit der Hilfe viel zu viele Menschen nicht erreicht".
Der Vorsitzende des Stadtrates von Ost-Aleppo forderte unterdessen eine umgehende Evakuierung von Menschen. "Stoppt das Töten, rettet die Kinder! Wir brauchen heute eine Lösung", sagte Brita Hagi Hasan in Brüssel. Morgen könne es bereits zu spät sein für Aleppo. Auch die Hilfsorganisation Save the Children drängte, dass "wirklich alle Zivilisten die Stadt auf sicheren Wegen verlassen dürfen, um endlich lebenswichtige Hilfe zu erhalten". Zahlreiche Kinder seien lebensbedrohlich verletzt oder traumatisiert.
Menschenrechtsbeauftragte spricht von "unerträglichen Greueltaten"
Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD), rief zudem die Kriegsparteien zur Einhaltung humanitärer Mindeststandards auf. "Die Gräueltaten an Zivilisten, die wir zurzeit im Osten Aleppos sehen, sind unerträglich", so Kofler laut Funke Mediengruppe.
Publizist Jürgen Todenhöfer forderte im Deutschlandfunk, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) müsse Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zügig nach Damaskus schicken. Verhandlungen mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad seien nach dessen militärischem Erfolg in Aleppo der einzige Weg, um den Menschen in Syrien zu helfen und das Land innerlich auszusöhnen.
SOS-Kinderdörfer warnte unterdessen vor einer Winterkatastrophe in Aleppo. Mit sinkenden Temperaturen werde sich die katastrophale Lage noch einmal dramatisch verschlechtern.
Verzögerte Evakuierung
Die Evakuierten aus Ost-Aleppo sollen in das etwa 60 Kilometer entfernte Idlib gebracht werden. Andere könnten in die Türkei ausreisenerklärte UN-Berater Egeland. Während der Evakuierungsfahrten sollten auf den Routen die Kämpfe ruhen. Darauf hätten sich die Konfliktparteien geeinigt.
Nach dem Erfolg der Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gegen die Rebellen in Ost-Aleppo hatte sich die Evakuierung verzögert. Assad-Einheiten unterbanden am Mittwoch die Aktion. Mit der Einnahme Ost-Aleppos erzielte Machthaber Baschar al-Assad einen wichtigen strategischen Erfolg in dem seit 2011 tobenden Syrienkonflikt.
Menschen in Aleppo seit Sommer von Hilfe abgeschnitten
Seit Anfang Juli konnten die UN und Hilfsorganisationen keine Lebensmittel und Medikamente mehr in das Gebiet liefern, das von Assad-Truppen abgeriegelt wurde. Syrische und russische Militärjets überzogen Ost-Aleppo mit heftigen Bombardements.
Die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" befürchtet, dass es in Aleppo "zu fürchterlichen Racheakten kommt", sobald das Assad-Regime wieder die Kontrolle über die gesamte Stadt hat. Die Vereinten Nationen sollten schnellstens Menschenrechtsbeobachter entsenden, sagte Hadeel al-Shalchi der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung".