"Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Marshallplan der US-Regierung in Deutschland und Westeuropa den umfassenden Wiederaufbau eingeleitet und die Grundlage für wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen. Der Irak braucht das jetzt auch", sagte der Nahost-Experte des weltweiten katholischen Hilfswerks "Kirche in Not" Dr. Andrzej Halemba.
Er hatte Ende 2016 mehrere Dörfer in der Ninive-Ebene besucht, die seit November von der Terrormiliz "Islamischer Staat" befreit worden waren. Vor der Eroberung waren diese überwiegend von Christen besiedelt. Die meisten von ihnen haben mittlerweile Zuflucht rund um Erbil im kurdischen Teil des Irak gefunden.
Vermehrte Rückkehrbereitschaft bei Christen
Jetzt kehre unter den geflüchteten Christen die Hoffnung wieder zurück, erklärte Halemba. "Viele von ihnen waren schon in ihren Heimatdörfern, um zu schauen, was aus ihrem Besitz geworden ist. Die meisten sind auch bereit, dauerhaft zurückzugehen." Hier habe ein Umdenken eingesetzt.
Denn bei einer von "Kirche in Not" durchgeführten Umfrage im November 2016 – also kurz nach Beginn der Rückeroberungen – hatten nur zehn Prozent der Befragten angegeben, in ihre Heimatdörfer zurückkehren zu wollen. "Damals hatten die Menschen Angst, dass sich noch viele Terroristen in den Dörfern versteckt halten oder zurückkommen könnten." Nach aktuellen Erhebungen hätten jetzt bereits über 50 Prozent ihre Rückkehrbereitschaft signalisiert. "Und diese Zahl wächst ständig", sagte Halemba.
Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen
Um den Wiederaufbau einzuleiten, sei es in einem ersten Schritt notwendig, genaue Informationen über das Ausmaß der Zerstörungen zu haben. "Kirche in Not' unterstützt die Haupt- und Ehrenamtlichen vor Ort, damit sie eine professionelle Beurteilung vornehmen können." Auch Satellitentechnik komme zum Einsatz, um das Ausmaß der Zerstörungen zu ermitteln "Es liegen bereits tausende von Objektbeschreibungen und erste Kostenschätzungen vor. Das ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einem Marshallplan für den Irak", erklärte Halemba.
Auch müssten nach und nach lokale Ausschüsse geschaffen werden, die den Wiederaufbau koordinieren. Größtes Problem sei jedoch, woher die benötigten Mittel kommen sollen. "Kirche in Not' wird selbstverständlich den Wiederaufbau fördern. Aber allein ist das nicht zu schaffen, deshalb suchen wir die Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen."
Auch der irakische Staat müsse stärker als bisher seiner Verpflichtung nachkommen, so Halemba: "Bislang haben Christen im Irak ja nicht einmal die volle Staatsbürgerschaft. Das muss sich dringend ändern, sonst gehen noch mehr Menschen ins Ausland. Auch sollte die Regierung Wirtschaftsprogramme auflegen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu braucht sie aber Unterstützung im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit."
Sicherheit der Christen gewährleisten
Wichtigste Aufgabe des Staates aber sei es, die Sicherheit der Christen in ihren Dörfern zu gewährleisten. "Wenn das nicht gelingt, dann können die Menschen nicht zurück. Es darf sich nicht noch einmal eine Situation wie 2014 wiederholen, als die Christen mehr oder minder schutzlos den IS-Schergen ausgeliefert waren", erklärte Halemba.
Es gelte jetzt, keine Zeit zu verlieren. "Ursprünglich hatten wir gedacht, dass die ersten Familien frühestens im Sommer zurückkehren würden. Aber viele wollen jetzt schon gehen, trotz des Winters und einer fast vollständig zerstörten Infrastruktur", berichtete Halemba. Das stelle die Arbeit von "Kirche in Not" vor immense Herausforderungen: Neben der "Starthilfe" für die Rückkehrer gelte es die bestehende Hilfe für über12 000 Familien in den Flüchtlingsunterkünften aufrechtzuerhalten.
"Kirche in Not" versorgt sie mit Lebensmitteln und Dingen des persönlichen Bedarfs, hat Notunterkünfte und Schulen gebaut. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Mietbeihilfe, damit Familien nicht länger in Massenunterkünften leben müssen. Das Hilfswerk sei jetzt gebeten worden, diese Hilfsleistungen zu erhöhen: Hier lägen über 5.000 Hilfsgesuche vor, so Halemba. "Wir wissen noch nicht, wie wir das alles unter einen Hut bekommen sollen. Aber die Menschen vertrauen auf die Kirche als Symbol der Sicherheit und der Stabilität: In diesem entscheidenden und historischen Moment für die Christen im Irak können wir sie nicht alleinlassen."