domradio.de: Vor einem Jahr mussten Christen, Jesiden und andere Minderheiten Hals über Kopf die Ninive-Eben im Irak verlassen. Wie geht es den Menschen heute dort?
Berthold Pelster (Menschenrechtsexperte bei "Kirche in Not"): In der Region selber gibt es eigentlich kaum noch Christen. Diese sind zu fast 100 Prozent geflohen. Ähnlich verhält es sich auch bei anderen religiösen Minderheiten wie den Jesiden. Die Christen leben heute im Norden des Iraks. Das ist rund 100 Kilometer entfernt. Dort liegt die autonome kurdische Region. Die Lebensbedingungen in diesem Teil des Iraks sind viel sicherer. In den ersten Monaten wurden die Christen dort in Zelten und Wohncontainern untergebracht. Allmählich können einige der Christen in feste Wohnungen umziehen. Einige haben auch wieder Arbeit gefunden. Die autonome Region Kurdistan ist ein Gebiet, in dem es wirtschaftlich voran geht. Es wird sehr viel gebaut und entsprechend gibt es viele Baustellen. Und dort hat zumindest ein Teil der Flüchtlinge Arbeit gefunden.
domradio.de: Wie ist denn das Miteinander zwischen Christen und Kurden?
Berthold Pelster: Zunächst einmal muss man wissen, dass die Christen ganz überwiegend Arabisch als Muttersprache haben. Und im kurdischen teil des Iraks wird Kurdisch gesprochen. Es gibt also schon eine rein sprachliche Grenze, die man überwinden muss und weiter dann auch eine kulturelle Grenze. Die Menschen lernen dort, Kurdisch zu sprechen, um sich im Alltag zurecht zu finden. Ansonsten sind die Kurden den Christen gegenüber relativ aufgeschlossen. Es geht dort wirtschaftlich voran und sie brauchen gut ausgebildete Arbeitskräfte. Die Christen sind im ganzen nahen Osten oft gut ausgebildet. Allerdings ist es für einen Arzt oder Lehrer durchaus eine Herausforderung, jetzt plötzlich auf einer Baustelle zu arbeiten.
domradio.de: Die Kämpfe gegen den Islamischen Staat (IS) sind heute noch genau so heftig wie vor einem Jahr. Sehen Sie denn die Chance, dass die Christen wieder in ihre Heimatregion zurückkehren können?
Berthold Pelster: Die Christen machen wirklich eine Achterbahnfahrt der Gefühle durch. Manchmal gibt es positive Meldungen, dass bestimmte Gebiete vom IS zurückerobert werden konnten. Dann gibt es wieder Meldungen, dass neue Ortschaften vom IS erobert worden sind. Gerade in den letzten Tagen gab es wieder die Meldung, dass eine Stadt in Zentral-Syrien erobert worden ist, wo auch Christen gelebt haben sollen. Dort sind 250 Menschen vom IS entführt worden. Mal haben sie ein kleines bisschen Hoffnung, die aufkeimt, wenn sie zum Beispiel eine Wohnung gefunden haben und damit ein festes Dach über dem Kopf haben. Das gibt ihnen etwas von ihrer persönlichen menschlichen Würde zurück. Aber auf der anderen Seite ist der IS auch immer wieder in der Lage, neue Gebiete zu erobern, so dass also ein großes Fragezeichen bleibt, ob sie eines Tages nach Mossul oder in die Ninive-Ebene zurückkehren könnten. Heute ist das ziemlich ungewiss und unwahrscheinlich.
domradio.de: Die Christen haben teilweise dort 2.000 Jahre Tradition und leben bereits so lange im Irak. Jetzt sind sie von heute auf morgen vertrieben. Was macht das mit einem Menschen? Wie gehen die Menschen damit um?
Berthold Pelster: Mich beeindruckt immer am meisten, dass für diese Menschen der christliche Glaube an oberster Stelle steht. Sie standen ja vor der Wahl, entweder zum Islam zu konvertieren oder zumindest eine Schutzsteuer zu bezahlen, um bleiben zu können. Aber sie haben sich ganz klar für ihren Glauben entschieden, auch wenn sie dafür ihr ganzes Hab und Gut, ihr Zuhause und ihre Heimat verloren haben. Sie stehen fest im Glauben und halten fest am Glauben und müssen jetzt bei null wieder anfangen. Dazu brauchen sie die Unterstützung der Menschen aus dem Westen und der internationalen Staatengemeinschaft. Papst Franziskus hat übrigens vor einigen Tagen auch auf die Situation aufmerksam gemacht. Er hat einen Brief an einen Weihbischof in Jerusalem geschrieben, der für die Christen in Jordanien zuständig ist. In dem Brief hat er dem jordanischen Volk ausdrücklich dafür gedankt, dass auch dort Flüchtlinge aufgenommen worden sind. Aber der Papst appellierte an die Weltgemeinschaft, dass sie angesichts des immensen Elends, das man im Nahen Ostern sieht, nicht wegschaut. Franziskus ruft dazu auf, mehr zu tun, aktiver zu werden und auch für die verfolgten religiösen Minderheiten etwas zu tun.
domradio.de: Die Menschen sind auf Hilfe aus dem Westen angewiesen. Wie können wir hier in Deutschland die Christen im Irak am besten unterstützen?
Berthold Pelster: Es gibt verschiedene Hilfsorganisationen, über die dann die Hilfe vermittelt werden kann. Die Hilfswerke, wie auch "Kirche in Not", arbeiten oft sehr eng mit der Kirche zusammen. Es gibt vor Ort eine etablierte Struktur. Es gibt Pfarrgemeinden, Personal vor Ort und auch viele Ehrenamtliche, die mithelfen. So kann Hilfe vermittelt werden. Wir haben zum Beispiel geholfen, dass die Flüchtlinge anfangs etwas zu essen und Kleidung bekommen haben. Sie konnten auf ihrer Flucht ja nur das Nötigste mitnehmen. Dann wurden Wohncontainer errichtet. Ganz wichtig war auch, dass Schule errichtet worden sind. Denn unter den 120.000 Flüchtlingen waren auch viele Kinder und Jugendliche. Wenn die keine gute Schulausbildung bekommen, dann sind deren Zukunftsaussichten komplett verbaut. So hat "Kirche in Not" mitgeholfen, acht Schulen zu errichten. Insgesamt haben wir etwa 15.000 christlichen Familien geholfen.
domradio.de: Vielen Dank für das Gespräch
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch