domradio.de: Das Referendum führt zu einem Konflikt zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung. Was bedeutet das für die Christen, die vor dem IS in die betroffenen Gebiete geflohen sind?
Tobias Lehner (Internationales katholisches Hilfswerk "Kirche in Not"): Viele Christen haben durch die IS-Eroberungen 2014 im kurdischen Teil des Irak Zuflucht gefunden. Genau in der Region, die jetzt die Unabhängigkeit anstrebt. Nach wie vor halten sich dort 90.000 Christen auf. Man kann also sagen, sie sitzen zwischen allen Stühlen. Sie sind sehr dankbar, dass sie Aufnahme im Kurdengebiet gefunden haben, jetzt wollen sie aber wieder zurück. Und ihre alte Heimat, die Ninive-Region, liegt sozusagen als Pufferzone zwischen dem irakischen Zentralstaat und der Kurdenregion. Deshalb ist eine Spaltung dieser Region zu befürchten und das sorgt natürlich bei den verbliebenen Christen für große Unsicherheit.
domradio.de: Die Christen haben also Angst, in neue politische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Haben sie denn überhaupt eine Möglichkeit, das zu verhindern?
Lehner: Das ist eine sehr schwere Frage. Ihre Möglichkeiten sind in der Tat begrenzt. Sie haben keine große Lobby, sie haben keinen großen Fürsprecher in der Region. Die Bischöfe sagen das in einer gemeinsamen Erklärung sehr deutlich: Wir sind dankbar für die Hilfe, die wir erfahren haben. Aber anstatt, dass die Kurdenregion und der irakische Staat jetzt ihre ganze Energie in den Konflikt stecken, sollten sie lieber auch auf die Minderheiten in der Region achten und darauf, dass das Land der Christen wieder aufgebaut wird. Hier geschieht nämlich wenig bis gar nichts. Währenddessen sind sie also komplett auf die Solidarität – auch aus dem Ausland – angewiesen.
domradio.de: An wen wenden sich die Bischöfe denn in ihrem Schreiben überhaupt?
Lehner: Es ist natürlich ein Appell an die beiden Konfliktparteien, jetzt nicht noch weiter Öl ins Feuer zu gießen, was momentan auch medial passiert. Letzte Woche kam die Meldung durch, dass die irakische Zentralregierung die Nachbarländer Türkei und Syrien aufgefordert hat, die Grenzen zu der Kurdenregion zu schließen. Es sind auch Flüge aus dem Irak in die Region verboten worden. Also, hier ist auch in den Medien ziemlich viel Konfliktpotential. Die Bischöfe sagen ganz klar, es seien jetzt Mäßigung und Dialog an der Reihe. Man werde den Konflikt nur lösen können, wenn man die verschiedenen Parteien an einen Verhandlungstisch bringt.
domradio.de: Was tun Sie von "Kirche in Not", um die Christen in einer der Ursprungsregionen zu unterstützen?
Lehner: Noch vor wenigen Jahren haben über eine Million Christen im Irak gelebt, heute sind es unter 500.000 – man geht eher von 300.000 aus. Die Christengemeinschaft ist sehr stark ausgeblutet. Wir wollen zum Erhalt beitragen. Deshalb haben wir eine Kampagne mit dem Titel "Return to the roots" – Zurück zu den Wurzeln gestartet. Denn Umfragen unter den christlichen Binnenflüchtlingen im Irak zeigen, sie wollen in ihre alte Heimat zurück. Nur ist die eben weitgehend zerstört.
Wir haben initiiert, dass wir syrisch-orthodoxe, syrisch-katholische und chaldäisch-katholische Bischöfe an einen Tisch bekommen – auch das ist eine besondere Art der ökumenischen Zusammenarbeit –, um gemeinsam den Wiederaufbau in der Ninive-Ebene zu schultern. Wir haben die Schäden dort erfasst und die sind verheerend: 13.000 Gebäude zerstört, geschätzte Gesamtkosten über 250 Millionen US-Dollar. Das ist ein Kraftakt, den wir Dank unserer Wohltäter aus aller Welt und in einem breiten Zusammenschluss mit gesellschaftlichen Kräften meistern wollen.
Und da gibt es schon erste Erfolge. Gut 14.000 Christen sind bereits in die Ninive-Ebene zurückgekehrt, bauen dort langsam wieder auf. Es wird überall renoviert und gebaut. Das ist natürlich ein großer Erfolg und darauf wollen wir weiter aufbauen. Gerade in dieser Situation, wo die Christen, die sich im Kurdengebiet und im Irak aufhalten, unsere Solidarität ganz besonders brauchen.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter.