domradio.de: Herr Prof. Schneider, was macht aus Ihrer Sicht die Faszination von Wallfahrtsorten wie Lourdes oder Fatima aus?
Prof. Dr. Bernhard Schneider (Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Theologische Fakultät Trier): Die Faszination besteht sicher darin, dass man einen konkreten Ort hat, an dem man intensive religiöse Erfahrungen machen kann – häufig haben diese Erlebnisse den Charakter einer intensiven, kirchlich gelebten Gemeinschaft.
domradio.de: Fatima ist offiziell von der Kirche anerkannt. Das gilt aber längst nicht für alle Marienerscheinungen. Wie kann man den Wahrheitsgehalt überhaupt überprüfen?
Schneider: Es gibt ein kompliziertes, kirchliches Prüfverfahren, das sich in einer Entwicklung von mehreren hundert Jahren etabliert hat. Mittlerweile gibt es da klare Regularien, so dass unter der Führung eines Bischofs eine Kommission eingesetzt wird und das Prüfverfahren beginnt. Das bezieht sich vor allem auf vier Bereiche: das ist zum einen zum Phänomen, zur Erscheinung an sich; dann geht es um die Persönlichkeiten, die hier betroffen sind, also die Seherinnen und Seher. Schließlich geht es um die Umstände, also Wunder oder Botschaften, von denen im Zusammenhang mit der Erscheinung berichtet wird. Und es geht immer auch um die Folgen – für die unmittelbar Betroffenen und dann um die Folgen, die sich mit einem solchen Erscheinungsort für die Kirche insgesamt verbinden.
domradio.de: Kann man denn am Ende eines solchen Prüfprozesses sicher sein, dass das stimmt, was da passiert ist?
Schneider: Das ist überhaupt nicht der Anspruch des Prüfprozesses. Er will nicht die objektive Tatsächlichkeit feststellen, sondern das kirchliche Urteil bei einer Anerkennung heißt im Prinzip nur: es spricht aus kirchlicher Sicht nichts dagegen, dass von diesen Ereignissen als Marienerscheinung gesprochen wird. Und weiter spricht nichts dagegen, dass hier an diesem Ort gebetet wird und dass man dorthin pilgert. Es ist also eine Art „Nihil obstat“ (wörtlich „Es steht nichts entgegen“) für den Kult, der sich an einem solchen Ort für gewöhnlich schon etabliert hat. Der Prüfprozess ist also nicht ein Engagement der Kirche in die Richtung, dass sie sagt, das ist genau so oder so passiert und es ist ganz sicher, dass hier der Himmel durch eine Erscheinung eingegriffen hat.
domradio.de: Sprechen wir über das, was in Fatima geschehen ist. Drei Kinder aus einfachen Verhältnissen haben vor 100 Jahren berichtet, ihnen sei die Gottesmutter erschienen. Das ist längst nicht der einzige Ort, wo Maria gesehen wurde. Mal etwas platt gefragt: warum erscheint immer Maria und nicht Josef oder Jesus Christus?
Schneider: Das ist in dieser Ausschließlichkeit sicher auch nicht der Fall. Wir haben bei verschiedenen Marienerscheinungen auch andere Heilige, die von den Sehern identifiziert wurden. Bei der Schlussvision von Fatima zum Beispiel spielt Josef durchaus eine Rolle. Aber in der Tat: meistens ist es Maria, die erscheint.
domradio.de: Woran liegt das?
Schneider: Das ist sicher verbunden mit der Tradition starker Marienverehrung, wie sie im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders intensiv war. In dieser Zeitspanne sind auch Marienerscheinungen gehäuft aufgetreten. In Lourdes zum Beispiel im Jahr 1858 oder eben Fatima vor hundert Jahren.
domradio.de: Wie ordnet sich Fatima in den "Reigen" der Marienerscheinungen des 19. Jahrhunderts ein?
Schneider: Fatima ist eine Erscheinung, die einige Elemente mit anderen Marienerscheinungen der Zeit gemein hat – so auch mit Lourdes als "Idealfall" der Marienerscheinung. Wir haben dort wie in Fatima Kinder, denen die Vision zuteil wird, die Maria gesehen haben. Der Ort ist eher abgelegen, in einer ländlichen Umgebung. Es ist die Kombination von Erscheinung und Botschaft, die hier typisch wird für die Marienerscheinungen der Zeit. Und es ist häufig so, dass der historische Hintergrund wie Krise, Not oder Krieg doch eine erkennbare Rolle bei der Marienerscheinung spielt – so wie bei Fatima der 1. Weltkrieg.
domradio.de: Ist das eigentlich wirklich Maria, die da erscheint, also die Frau, die vor 2000 Jahren Jesus Christus geboren hat?
Schneider: Die Theologen versuchen immer wieder Modelle zu entwerfen, wie man das erklären kann. Also ob zum Beispiel die Marienerscheinung eine äußerlich objektive Figur hat und so aussieht wie Maria vor 2000 Jahren – oder ob das ein Phänomen ist, das sich eher im Inneren der betroffenen Menschen, die die Erscheinung sehen, vollzieht. Diese Erklärungs- oder Unterscheidungsversuche der Theologen führen allerdings nicht zu einem einheitlichen Ergebnis. Aber man muss wissen, dass die diversen Beschreibungen der Marienerscheinungen auch sehr verschieden und variantenreich sind.
domradio.de: Die Offenbarung ist aus christlicher Sicht abgeschlossen – die Bibel und ihre Zusammenstellung steht im Prinzip seit der Spätantike fest, die zentrale Glaubensinhalte auch. Braucht die Kirche solche Erscheinungen überhaupt?
Schneider: Also, es gibt kein Muss. Jeder, jede kann ein guter Katholik und Katholikin sein, ohne dass man an eine konkrete Marienerscheinung "glaubt" oder dass man nach Fatima oder Lourdes pilgern muss. Es ist mit den Marienerscheinungen - positiv gesprochen - die Möglichkeit verbunden, dass Elemente der kirchlichen Lehre konkretisiert werden, dass in einer bestimmten Situation die Offenbarung aktualisiert wird.
domradio.de: Trotzdem kann man da die Frage stellen: welchen Sinn haben solche Erscheinungen und Botschaften?
Schneider: Die Theologen würden sagen: Man muss natürlich damit rechnen, dass Gott einen Plan mit den Menschen hat und dass in einem solchen Plan Maria und mögliche Marienerscheinungen ihren Platz haben. Wie das dann bei der jeweiligen Marienerscheinung ist, das ist dann näher auszudeuten und dafür gibt es ja auch die Prüfverfahren. Es kann dann natürlich sein, dass negative Begleiterscheinungen bei Marienerscheinungen so stark sind, dass die Kirche den Kult sogar verbietet oder zumindest davon abrät. Man muss in diesem Zusammenhang auch wahrnehmen: das Gros der Marienerscheinungen werden kirchlich gar nicht anerkannt oder schaffen es noch nicht einmal, dass sie einem Prüfverfahren unterzogen werden.
Das Gespräch führte Mathias Peter.