DOMRADIO.DE: Zunächst mal zur Einordnung: Was genau war der Stein des Anstoßes für den Papst bei der Schwangerenkonfliktberatung?
Martin Korden (DOMRADIO.DE Theologie-Redaktion): Der Stein des Anstoßes war und ist ja immer noch der besagte Schein. Die gesetzliche Regelung in Deutschland, die 1993 so gesprochen wurde, besagt, dass eine Abtreibung zwar gesetzeswidrig ist, aber unter bestimmten Bedingungen nicht bestraft wird – und zwar dann, wenn sich die Schwangere erst maximal in der 14. Woche befindet und wenn zuvor eine Beratung in einer anerkannten Beratungsstelle stattgefunden hat.
Diese Beratung sollte das Ziel haben, so formulierte es damals der Gesetzgeber, die Schwangere dazu zu bewegen, nicht abzutreiben. Als Beleg für die stattgefundene Beratung wird dann dieser Schein ausgestellt, der die Schwangere dazu berechtigt, eine Abtreibung straffrei durchführen zu lassen.
Innerhalb der Kirche gab es seit dieser Neuregelung die Bedenken, ob man als Kirche an diesem System der Scheinausstellung teilnehmen könne. Und Johannes Paul II. hat dann 1998 die katholische Kirche in Deutschland zum Ausstieg konkret aufgefordert und damit eine Entscheidung erzwungen, auf die sich die deutschen Bischöfe bis dahin nicht einigen konnten.
DOMRADIO.DE: Der Brief des Papstes hat damals zu einer Zerreißprobe geführt zwischen den unterschiedlichen Lagern in der katholischen Kirche in Deutschland bis hinein in die Bischofskonferenz. Was war an dieser ganzen Sache so brisant?
Korden: Es war kurz gesagt die Frage: Wie dient man mehr dem gemeinsamen Ziel, dem Schutz des Lebens. Das eine Lager meinte: Indem man an diesem System der staatlichen Konfliktberatungsstellen mit Scheinausstellung teilnimmt und dadurch eben auch mitwirken kann bei dem Ziel, Schwangeren in der Beratung zu einer Entscheidung für das Kind zu verhelfen. Vielleicht könnten dann Abtreibungen verhindert werden, die bei anderen Beratungsstellen möglicherweise nicht verhindert werden könnten.
Das andere Lager sagte dagegen und dazu gehörte der Papst: Wenn die Kirche einen Schein ausstellt, der zu einer Abtreibung berechtigt, wird sie mitschuldig an der Tötung eines Lebens. Außerdem würde das Zeugnis der Kirche verdunkelt, immer für die unantastbare Würde und damit verbunden für das Lebensrecht jedes Menschen einzutreten, gerade der Schwächsten. Darum haben diese gesagt: Beratung ja, aber Scheinausstellung, der eine Abtreibung straffrei werden lässt: Nein.
DOMRADIO.DE: Wie ging dieser Konflikt damals weiter?
Korden: Zunächst muss man sagen, dass der Konflikt schon in dem Moment da war, als die neue gesetzliche Regelung 1995 in Kraft trat. Das Bistum Fulda unter Erzbischof Johannes Dyba weigerte sich von Anfang an, die Scheine auszustellen. In der Bischofskonferenz gab es zwar eine Mehrheit, die sich für den Verbleib in dem System aussprach. Dennoch rumorte es untern den Bischöfen: Neben Dyba war es da vor allem auch der Kölner Erzbischof Meisner, der diese Praxis scharf kritisierte.
Dazu kam, dass nach der Einführung dieser Regelung 1995 die Zahl der Abtreibungen in Deutschland erstmal stark nach oben ging. Für diejenigen, die gegen die kirchliche Mitwirkung an dieser Beratungsregelung waren, zunehmend unerträglich. Die Haltung des Papstes war da aber immer unmissverständlich und der Brief heute vor 20 Jahren dann eigentlich auch keine große Überraschung.
DOMRADIO.DE: Folgte dann der Ausstieg aus dem System?
Korden: Nicht direkt. Genauer gesagt erst anderthalb Jahre später. Bis dahin versuchten noch einige deutsche Bischöfe den Papst umzustimmen. Gerade auch mit dem Hinweis auf die Befürchtung, dass viele Frauen ohne die Aussicht auf den Schein gar nicht mehr in die kirchlichen Beratungsstellen kommen würden. Aber Ende 1999 kam dann der Ausstieg. Der bedeutete: weiterhin Beratung, aber eben ohne Ausstellung des Scheins.
Das Bistum Limburg unter Bischof Kamphaus, der diese Entscheidung nicht hinnehmen wollte, stellte noch weitere drei Jahre den Schein aus, stellte dann aber auf bleibenden Druck des Papstes auch die Scheinaustellung ein. Darüber hinaus ist noch der Verein "Donum Vitae" zu nennen, er wurde 1999 von katholischen Christen gegründet, als Verein von Christen außerhalb der Kirche, die als staatlich anerkannte Beratungsstelle im System blieb und sich auf die Fahnen geschrieben hat, im christlichen Sinne zu beraten, aber eben auch den Schein weiter auszustellen, in der Hoffnung, dadurch aber doch viele Frauen von einer Abtreibung abzubringen.
DOMRADIO.DE: Wie sieht man das Thema nun 20 Jahre nach der Entscheidung des Papstes?
Korden: Ich würde sagen, es ist nach wie vor ein heißes Eisen. Es gibt weiterhin die zwei Lager. Die einen sagen: Die Kirche hätte nie aus dem System aussteigen dürfen, um eben mehr Frauen im Kampf für das ungeborene Leben erreichen zu können. Die anderen sagen: Es war richtig, um das Zeugnis für den Lebensschutz klar auszudrücken.
Manche sagen: Wäre die Kirche damals dabei geblieben, Scheine zur Abtreibung auszustellen, hätte sie ihre Stimme in diesen vielen bioethischen Fragen, die danach kamen – Stichwort Embryonenforschung oder vorgeburtliche Diagnostik und ihre Folgen für Kinder mit dem Down-Syndrom – , nicht so eindeutig erheben können. Zu sagen, wir stellen auf der einen Seite den Schein zur Berechtigung der Abtreibung aus und lehnen in diesen anderen Bereichen gleichzeitig das In-kauf-Nehmen der Tötung von Embryonen strikt ab, für die Befürworter auch Gründe anführen, wie die Möglichkeit, Krankheiten zu heilen, wäre nicht glaubwürdig gewesen.
Das Gespräch führte Heike Sicconi.