DOMRADIO.DE: Wie sind Sie zum Publikumszuschauer in der Wahlarena geworden?

Pfarrer Gereon Lemke (Seelsorger am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel): Ich habe die Ausschreibung im Internet gelesen und daraufhin eine Frage zum Thema Pflege und Migration formuliert. Das ist mir ein ganz wichtiges Anliegen, weil Pflege ohne Migranten und gut integrierte Ausländer aus aller Herren Länder schon seit Jahren nicht mehr möglich ist. Dann bekam ich irgendwann einen Anruf vom NDR mit der Nachfrage, ob ich in irgendeinem Rundfunkrat sei. Denn dann dürften sie mich nicht einladen. Ansonsten würden sie es sich noch überlegen. Sehr viele Menschen hätten Fragen in diese Richtung formuliert.
Dann habe ich denen erzählt, dass bei uns in Kiel inzwischen sogar manchmal indische Ordensschwestern rassistisch beleidigt werden und dass mich das alles sehr bewegt. Dann haben die mich noch einmal angerufen und gesagt, ich möge kommen. Die Frage soll ich aber nicht vorher aufschreiben. Ich könne sie auch jederzeit ändern und auf Herrn Merz ummünzen. Damals war noch nicht der Parteitag gewesen, auf dem die AfD dieses unsägliche Wort "Remigration" ins Programm aufgenommen hat.
Deshalb war für mich klar, alles versuchen zu wollen, um Frau Weidel mit diesem Thema zu konfrontieren. Ich habe das Ziel gehabt, sie zu fragen. Das war für mich völlig klar. Ich wollte es auch auf niemanden umzumünzen, weil mich Menschen mit ausländischem Hintergrund, gut integrierte Flüchtlinge, gut integrierte Migranten, aber auch Leute, die gerade erst kommen, ansprechen und fragen, was bei uns los ist.
DOMRADIO.DE: Sie haben auch sofort die Chance ergriffen, sich gemeldet, sind als erstes drangekommen. Frau Weidel hat zu Beginn ihrer Antwort Ihr Wirken als Seelsorger im Krankenhaus und in der Pflege gewürdigt. Hat Sie das berührt?
Lemke: Ja, doppelt. Sie hatte zwei Tage zuvor beim ZDF einen Altenheimleiter von der Diakonie abgeferkelt. Ich war ganz glücklich, dass sie das bei mir nicht gemacht hat. Ich empfand aber dieses Kompliment als ein vergiftetes Kompliment, bei dem ich so gedacht habe, das muss sie jetzt nicht machen. Sie möge bitte meine Frage beantworten.
DOMRADIO.DE: Dann versuchte sie einmal zwischen Zuzug von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland und Asylsuchenden zu unterscheiden und verwies auf die Gesetzeslage. Hat sie Ihre Antwort überzeugt?
Lemke: In keiner Weise. Sie spult dann etwas ab, unterscheidet zwischen Legalen und Illegalen, behauptet Dinge, die sachlich völlig falsch sind. Im Grunde beginnt sie dann ihr Narrativ nach dem Motto: Die Fremden sind an allem schuld. Die eigentliche Frage hat sie mir ja nicht wirklich beantwortet, was sie für eine Willkommenskultur tun will, die wir weiter brauchen. Gott sei Dank ist mir hier Frau Wellmer beigesprungen und hat sie dann festgenagelt, was denn mit einem geduldeten Pflegeschüler wäre.
Da hat Frau Weidel ja deutlich gesagt, dass dieser raus müsse und wieder reinkommen dürfe. Das ist natürlich inhaltlich völliger Blödsinn. Wenn jemand seine Ausbildung abbrechen muss, wie soll der wieder reinkommen? Wo soll der bitte seine Ausbildung beenden? Man hätte natürlich noch fragen können, was eigentlich "geduldet" bedeutet. Warum haben wir Menschen, deren Antrag zwar abgelehnt wurde, die aber aus verschiedensten humanitären Gründen geduldet werden und geduldet werden müssen und die dann natürlich auch arbeiten wollen und können?
DOMRADIO.DE: Was soll die neue Bundesregierung - ganz gleich wie die Wahl ausgehen wird - beim Thema Pflege tun?
Lemke: Wie bei vielen anderen Themen, die vom demografischen Wandel betroffen sind. Wir müssen uns ganz intensiv Gedanken machen, wie in Zukunft Pflege finanziert werden kann, wie sie sichergestellt wird, wie Leute motiviert werden, dass sie in die Pflege hineingehen und in der Pflege bleiben. Auch müssen wir uns überlegen, wie wir aus vielen Ländern dieser Welt Menschen für Pflege gewinnen.
Das ist unter den jetzigen Umständen in einer alternden Gesellschaft ein riesiges Problem. Da wäre es wunderbar, egal welche Koalition wir jetzt kriegen, wenn man sich da ehrlicher machen würde und nicht nur bei Corona den Pflegenden applaudiert. Das gilt ja nicht nur für Pflegende, das gilt ja auch für Mediziner und Medizinerinnen. Wir brauchen einfach Zuwanderung und müssen uns darüber Gedanken machen und da muss die Pflege auch gestärkt werden.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.