Kölner Pfarrer spricht über die Rekordaustrittszahlen

"Da gibt's nur eins: Demütig sein!"

700.000 Mitglieder haben die katholische Kirche in Deutschland im vergangenen Jahr verlassen, über eine halbe Million sind ausgetreten. In Köln haben 50.000 Katholiken die Kirche verlassen. Darüber spricht der Kölner Pfarrer Meurer.

Franz Meurer ist Pfarrer in den beiden Kölner Stadtteilen Höhenberg und Vingst. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Franz Meurer ist Pfarrer in den beiden Kölner Stadtteilen Höhenberg und Vingst. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Wie blickt man an der kirchlichen Basis in der Gemeindearbeit auf diese Entwicklung und was spürt man davon vor Ort?

Franz Meurer (Pfarrer der Gemeinde Köln Höhenberg und Vingst und als "Sozialpfarrer" bekannt): Bei uns läuft zurzeit die ökumenische Kinderstadt Hövi-Land mit zig 100 Kindern, da spürt man zunächst mal nur Freude. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite hat mich heute Morgen ein Pärchen angerufen, das heiraten will, aber beide sind aus der Kirche ausgetreten. Da haben wir ein Problem.

Franz Meurer

"Die Leute müssen den Eindruck haben, dass sie vorkommen. Und dieser Eindruck verdunstet allmählich"

Lange Rede, kurzer Sinn: Es geht um Resonanz. Hartmut Rosa hat ja diesen Bestseller 'Demokratie braucht Religion' geschrieben. Ja, klar braucht die Demokratie Religion, aber Religion muss auch Resonanz produzieren. Das heißt, die Leute müssen den Eindruck haben, dass sie vorkommen. Und dieser Eindruck verdunstet allmählich. Da müssen wir was dran tun. Nicht nur wir "Indianer" an der Basis, sondern natürlich auch die Bischöfe.

DOMRADIO.DE: Über 50.000 Katholiken haben hier in Köln die Kirche verlassen. 2020 waren es noch gut 40.000 und auch das war schon ein Rekordjahr. Überrascht Sie das angesichts der aktuellen Lage?

Meurer: Ja, aber das Problem ist, dass wir im Bistum meinen, wir könnten das Problem rechtlich lösen. Aber Resonanz hat mit Recht nichts zu tun, sondern mit Vertrauen. Wenn man recht haben will, zerstört man die Resonanz. Hier ist ein schwieriges Zitat von Hartmut Rosa: "In dem Moment, in dem Kirchenleute daherkommen und behaupten, sie wüssten schon, was Gott sagt, da verschließen sie umstandslos und erbarmungslos alle Resonanzquellen. 'Gott sagt ..., und deshalb musst du ...' Nein! Niemand will sich sagen lassen, was er tun muss, weil es ein anderer von oben gehört zu haben glaubt."

Da liegt der Hund begraben. Wir dürfen den Leuten nicht sagen 'Ich habe recht'. Der Papst hat gesagt: "Wenn einer zu dir kommt und sagt 'Ich weiß, wie Gott ist', dann ist Vorsicht geboten, das ist sehr gefährlich." Auf so ein Niveau müssen wir kommen.

DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie sprechen jetzt nicht nur von der Bistumsleitung, also vom Erzbischof, sondern auch von den hauptamtlichen Personen, Pfarrern, Gemeindereferentinnen, und so weiter vor Ort?

Meurer: Ich spreche von uns allen. Egal ob jetzt Priester oder Laien.

Franz Meurer

"Wir dürfen nicht so tun, als hätten wir Recht und wüssten schon alles."

Wir dürfen nicht so tun, als hätten wir Recht und wüssten schon alles. Das ist eine Religion, die daneben geht. Wenn du Recht haben willst, dann wird Religion toxisch.

Der Autor Navid Kermani erklärt in seinem berühmten Buch 'Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen' seiner Tochter die Religion. Nach einem halben Jahr fragt er seine Tochter, die ist zwölf Jahre alt, 'Und was ist hängen geblieben?' und sie antwortet - und das ist genial - 'Vielleicht'. Vielleicht gibt es Gott, vielleicht ist das die Wahrheit, vielleicht habe ich richtig vertraut.

Das heißt, wir müssen auf eine sehr poetologische Ebene kommen. Wir müssen wieder auf eine spirituelle Ebene kommen. Das ist eine Frage der Frömmigkeit, der Evangelisierung und nicht eine Frage ob man Recht hat oder nicht.

DOMRADIO.DE: In der Sache Frömmigkeit wird gerne gestritten. Die einen sagen, wir müssen mehr beten und frommer sein und häufiger die Gottesdienste besuchen. Die anderen sagen, dass sie über die Probleme der Kirche und die kirchliche Lehre sprechen wollen. Merken Sie auch in Ihrer Gemeinde, dass um solche Fragen auch gerungen wird?

Meurer: Ja, selbstverständlich. Wir werden bei unserer nächsten Klausur des Pfarrgemeinderates das ganze Markusevangelium abwechselnd lesen. Das dauert so ungefähr anderthalb Stunden. Die Leute wollen zurück zur Bibel. Das ist doch gar keine Frage.

Franz Meurer

"Die Leute wollen zurück zur Bibel. Das ist doch gar keine Frage."

Auf der anderen Seite gilt, was Kardinal Meisner - der ja ein guter Prediger war - gesagt hat. Der hat gesagt 'Liturgie ohne Diakonie ist Götzendienst'.

Das heißt, Glauben ohne zu handeln funktioniert nicht. Mir geht es darum, jetzt nicht wieder nach Schuldigen zu suchen, wer Recht hat.

Ich habe immer gesagt, das unser Kardinal eine ehrliche Haut ist. Und das ist das Problem. Er meint, dass das, was er sieht, richtig ist. Auf der anderen Seite gibt es meine Sicht auf die Welt, aber das nur ein ganz kleiner Ausschnitt und Sie, Herr Stens, haben wieder eine andere Sicht als ich auf die Welt. Das heißt, wir müssen Abstand nehmen von dem Ganzen und uns neu sortieren.

DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie damit um, wenn engagierte Katholiken aus der Kirche austreten, weil sie das System nicht mehr unterstützen wollen, aber sich durch die Mitarbeit in Gemeinden trotzdem noch einbringen wollen?

Meurer: Ja, natürlich können die mitmachen! Ich erzähl den Eltern ja auch nicht, wenn Messdiener aus der Kirche ausgetreten sind. Das darf ich im Sinne von Datenschutzrichtlinien ja auch nicht aushängen oder irgendwem persönlich mitteilen. Auch wenn aus meiner eigenen Familie jemand ausgetreten ist, sage ich das anderen Familienmitgliedern nicht.

Franz Meurer

"Und wenn wir dann zusätzlich noch dem Herrgott die Treue halten; das wär doch super."

Das heißt, wir müssen doch nur normal sein. Meine Meinung ist, dass wir als Christen zuerst mal den normalen Standard einer demokratischen Republik erreichen müssen. Wir müssen uns benehmen wie jeder anständige Bürger. Und wenn wir dann zusätzlich noch dem Herrgott die Treue halten; das wär' doch super.

DOMRADIO.DE: Wenn diese Austrittswelle rein rechnerisch so weitergeht, wird es in knapp 26 Jahren im Erzbistum Köln keine Katholiken mehr geben. Was muss getan werden, damit das verhindert wird?

Meurer: Es gibt nur einen einzigen Weg. Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen, so wie wir es an der Basis sowieso die ganze Zeit tun. Und dazu gibt es nur eines: Demütig sein. Wir müssen das machen, was Jesus selbst gemacht hat. Die Füße waschen. Klein beginnen. Liturgie ohne Diakonie ist Götzendienst, wie Kardinal Meisner sagt.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Quelle:
DR