DOMRADIO.DE: Wie kommt man auf die Idee, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verkündet wurde und an diesem 10. Dezember 75 Jahre alt wird, zu vertonen?
Helge Burggrabe (Komponist und Flötist): Dieses Projekt ist unter dem Eindruck der islamistischen Terroranschläge von Paris und Brüssel entstanden. Auftraggeber waren zwei Schulen im Brüsseler Stadtteil Molenbeek, wo viele der 100.000 Einwohner einen Migrationshintergrund haben und woher die meisten Attentäter des Bataclan stammten. In kürzester Zeit wurde dieses multikulturelle Viertel weltweit zum Inbegriff von gescheiterter Integration. Daher war es diesen beiden Schulen am Ort, davon eine katholisch mit etwa 400 Schülerinnen und Schülern aus 35 verschiedenen Ländern und mit einem Anteil von 75 Prozent Muslimen, ein Anliegen, ein Kulturprojekt für Jugendliche zu initiieren, mit dem sie zeigen wollten: Wir schaffen es sehr wohl, trotz aller kultureller und religiöser Unterschiedlichkeit friedlich miteinander zu leben.
DOMRADIO.DE: Wie haben Sie auf diese Anfrage reagiert?
Burggrabe: Zunächst gab es die Idee zu einem Gesangsstück, in dem ich das Verbindende der abrahamitischen Religionen zum Thema gemacht hätte. Aber dann wollte ich es doch gerne noch universeller fassen und habe die Erklärung der Menschenrechte als Grundlage meiner Komposition gewählt. Natürlich sind die 30 Artikel sehr umfangreich und in einem eher bürokratischen Duktus verfasst. Um Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen gerecht zu werden, erschien mir auch die Festlegung auf eine bestimmte Sprache problematisch. Also habe ich noch eine Ebene tiefer angesetzt und mich für die Frage nach dem Mensch-Sein an sich entschieden. Daher auch der Titel HUMAN. Es geht also darum, mit der universellen Sprache der Musik die Grundthemen des Menschlichen – Fragen an das Leben und eben auch unverhandelbare Bedürfnisse, die ein Mensch durch sein pures Dasein einfordern darf – auszudrücken: Freiheit, Heimat, Schutz, Liebe.
Und neben der universellen Sprache der Musik gibt es dann auch noch die des Körpers: des Tanzes und der Bewegung. Diese Sprache versteht jeder sofort, und in ihr kann sich jeder auch unmittelbar einbringen. Die Musik habe ich von Anfang mit der Idee geschrieben, dass sie Choreographen zu Tanz inspirieren soll.
DOMRADIO.DE: Was ist mit dem Thema Frieden, das Sie doch in Ihren Werken immer schon bewegt hat?
Burggrabe: Wenn es gelingt, diese unverhandelbaren Bedürfnisse des Menschen zu stillen, ist ein friedvolles Miteinander möglich. Frieden ist am Ende nichts anderes als die gelingende Umsetzung der Menschenrechte und damit gelebte Menschlichkeit. Die Sehnsucht danach ist dann besonders groß, wenn es uns Menschen nicht gelingt und wir gesellschaftlich total scheitern – wie 1948, als die Welt noch ganz unter dem Schock des Zweiten Weltkriegs stand. In einer solchen Notzeit war es dann möglich, dass Menschen sich zusammengesetzt haben mit der tiefen Überzeugung, dass wir eigentlich anders miteinander leben können und wollen, und in einer Sternstunde der Menschheit die Menschenrechtserklärung verfasst haben. Für mich lesen sich diese 30 Artikel wie ein einziger Sehnsuchtskatalog, in dem die Vision eines idealen Miteinanders entworfen wird. Gleichzeitig muss man mit Erschütterung feststellen, wie viel davon bis zum heutigen Tage weltweit immer noch nicht umgesetzt wird.
DOMRADIO.DE: 13 Einzelsätze haben Sie aus den insgesamt 30 Artikeln der Erklärung gemacht und daraus eine 60-minütige Suite für Orchester und Percussion komponiert. Nach welchen Kriterien sind Sie inhaltlich vorgegangen?
Burggrabe: Innerhalb der 30 Artikel habe ich nach verbindenden Grundthemen geschaut. Beim Thema Freiheit gibt es beispielsweise gleich mehrere Artikel: einen zur Pressefreiheit oder andere zur Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und so habe ich diese fünf, sechs differenzierten Definitionen, die das Anrecht auf unterschiedliche Freiheiten formulieren, zu einem Sammelbegriff gebündelt. Das gleiche gilt für das große Thema Schutz und Sicherheit. Es gibt das Recht auf Schutz der Privatsphäre, aber auch das vor Vertreibung. Mir wurde klar, die Einzelaspekte lassen sich zu zentralen unverhandelbaren Menschheitsthemen zusammenfassen, und eine solche Verdichtung erschien mir für ein Kulturprojekt sinnvoll.
Bei der Umsetzung in Musik stellte ich mir dann die Frage, wie ich damit umgehe, dass die Menschenrechtserklärung natürlich immer das Ideal beschreibt. Ich entschied mich dazu, in meiner Komposition HUMAN immer auch die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, diese Polarität, aufzuzeigen. So fängt die Musik zum Thema Freiheit zunächst sehr unfrei an – auch bei der choreografischen Arbeit mit Tänzern wird in der Regel erst einmal das Gegenteil des Geforderten sichtbar gemacht. Erst nach und nach löst sich die Unfreiheit zugunsten der Freiheit auf. Zu Beginn des Musikstücks Heimat steht zunächst eine tröstliche, "heimatliche" Melodie, die dann aus den Fugen gerät, sich wieder etabliert, bevor sie wieder verfremdet wird. Es ist zu beobachten, dass bei den Choreographien dann auch sehr spannungsvolle, dramatische Bilder für den Verlust und die Sehnsucht nach Heimat entstehen.
DOMRADIO.DE: Apropos, gibt es denn schon fertige Choreographien oder darf jeder frei assoziativ agieren?
Burggrabe: Grundsätzlich steht jedem Menschen frei, die HUMAN-Musik spielerisch und kreativ in Bewegung und Tanz umzusetzen, sei es als Tanzkompanie, als Profibühne oder auch als Schule, Kirche und kultureller Träger im Rahmen von Projekttagen und Veranstaltungen zur Menschenrechtsthematik. Von den Bremer Choreographen Wilfried van Poppel und Amaya Lubeigt gibt es allerdings auch ein fertiges Konzept im Stil des Community Dance. Sie haben im Herbst 2021 mit 60 Schülerinnen und Schülern auch die Premiere im Stadttheater von Brüssel-Molenbeek gestaltet, was sehr berührend war. Die meisten Jugendlichen waren noch nie zuvor in einem Theater gewesen oder hatten Kontakt mit klassischer Musik gehabt, doch am Ende war es ihr Projekt und ihr Anliegen! Von daher war der Prozess genauso wichtig wie die Aufführung selbst.
Diese jungen Menschen haben eine Selbstvergewisserung erfahren: gesehen zu sein, gebraucht zu werden und zu merken, dass, wenn jede und jeder seinen Teil einbringt, etwas sehr Großes entstehen kann. Diese Selbstwirksamkeit ist eine essentielle Lebenserfahrung, die jungen Leuten durch ein Projekt wie HUMAN vermittelt werden kann und die sie stärkt in dem Bewusstsein: Ich kann etwas, ich werde gebraucht und kann mich einbringen in die Gemeinschaft. Gerade junge Menschen auf diese Weise zu stärken ist für mich konkrete Friedensarbeit.
DOMRADIO.DE: Stichwort Frieden: Schaut man sich um, steht die Welt in Flammen. Zu alten Krisenherden sind aktuell neue Kriege dazu gekommen. In Ihren Oratorien oder Hagios-Konzerten geht es inhaltlich immer um die großen Themen der Menschheit: Frieden, Freiheit, Menschlichkeit, Gemeinschaft. Kann eine Initiative wie HUMAN da überhaupt etwas ausrichten?
Burggrabe: Dass wir uns auch 80 Jahre später noch mit der Strahlkraft von Menschen wie den Widerstandskämpferinnen Sophie Scholl oder Cato Bontjes van Beek aus meiner Heimat Fischerhude beschäftigen, ist doch ein Zeichen dafür, dass wir nach Vorbildern suchen. Dabei spüren wir, es gibt etwas – das kann die Kultur und vor allem auch die Verankerung im Glauben sein – was uns so stabilisiert und nährt, dass wir in Krisenzeiten dann umso resilienter sind. Leider wird die Bedeutung von beidem oft unterschätzt.
Und was den aktuellen Zustand der Welt angeht, gehen mir die Krisen natürlich nahe, aber ich bin immer noch Optimist: Ich glaube an das Potential des Menschen, zum Beispiel an seine bedingungslose Hilfsbereitschaft, wenn ich da an die enorme Unterstützung der Flutopfer im Ahr-Tal denke. Da haben fremde Menschen ohne Erwartung einer Gegenleistung mitangepackt. In solchen Situationen leuchtet dieses große Potential der Mitmenschlichkeit auf. Wir sind empathische Wesen. Und ich würde mir wünschen, dass wir uns diese Fähigkeiten nicht nur für Krisenzeiten aufsparen, sondern sie auch in unserem ganz normalen Alltag einsetzen. Dann würden manche gesellschaftlichen Krisen und Konflikte gar nicht erst aufflammen. In diesem Sinne sollen meine Kultur- und Musikprojekte ein Beitrag sein zu der Erkenntnis: Wir können auch anders – und zwar in jedem Augenblick.
DOMRADIO.DE: Würden Sie sich von solchen Stimmen nicht mehr wünschen?
Burggrabe: Ohne Zweifel. Die Kraft der Kunst, der Kultur und des Glaubens ist immens und macht einen zuversichtlich. Sie kann einen trösten und gibt Halt. Sie ist wie eine Quelle, an die man sich anbinden kann. Und man wird gewahr, nicht alles selber aus sich heraus schaffen zu müssen. Das kann uns ermutigen, im konkreten persönlichen Umfeld und mitten im Alltag friedensstiftend zu wirken.
DOMRADIO.DE: Sie komponieren vor allem für den geistlichen Raum. Welche Rolle spielen Religion und Glaube bei HUMAN?
Burggrabe: Ich sehe da eine unmittelbare Verbindung, denn wie bei den Menschenrechten versuchen auch die Religionen seit je her, Wege aufzuweisen für ein besseres Zusammenleben. Im Christentum gibt es beispielsweise die sieben Werke der Barmherzigkeit, die wie eine Handreiche für eine menschlichere Haltung und Ethik erscheinen. Im Mittelpunkt der Botschaften Jesu stehen eine tiefe Mitmenschlichkeit und Liebe, wenn wir an die Seligpreisungen denken oder auch an das Gleichnis des barmherzigen Samariters.
Denn was den Samariter auszeichnet, ist eine Hilfsbereitschaft, die nicht erst einmal danach fragt, ob die Hilfe einem anderen Menschen zusteht oder ob er sie verdient hat. Seine Hilfsbereitschaft und Liebe sind bedingungslos. Das ist revolutionär und das Gegenteil von Auge um Auge, Zahn um Zahn. Eine solche Haltung durchleuchten auch die Menschenrechte, wo es gleich im ersten Artikel um die Würde des Menschen geht, die jedem Menschen zugestanden wird und eben nicht erst einmal verdient werden muss. Insofern ist die Erklärung der Menschenrechte in meinen Augen eine Neuformulierung ethischer Grundgedanken aller Religionen.
DOMRADIO.DE: Die HUMAN-Musik, die von einem 30-köpfigen Orchester gespielt wird, ist das Herzstück Ihres Projektes. Kann sie auch pur aufgeführt werden?
Burggrabe: Als Tanzprojekt gab es innerhalb kurzer Zeit nun schon mehr als 40 Initiativen mit über 4000 Jugendlichen in sechs unterschiedlichen Ländern. Sogar Bethlehem, wo dieses Projekt bis drei Tage vor den schrecklichen Hamas-Angriffen mit palästinensischen Jugendlichen durchgeführt wurde, war mit dabei. Aber HUMAN kann auch von Orchestern als rein instrumentales Konzert auf die Bühne gebracht werden. Am 1. November fand die Konzertpremiere im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin und der Schauspielerin Julia Jentsch statt. Sie las zwischen den Musikstücken jeweils inhaltlich dazu passende Texte beispielsweise von Mahatma Ghandi, Martin Luther King, der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai aus Pakistan oder Stéphane Hessel, einem französischen Diplomaten und Überlebenden des KZ Buchenwald, der an den UN Menschenrechten mitgeschrieben hat.
DOMRADIO.DE: Was möchten Sie bewirken?
Burggrabe: Mir geht es um die Grundfrage: Wie wollen wir gemeinsam leben? Schaffen wir es – um es mit einem biblischen Motiv zu sagen – endlich das "Ur-Drama" von Kain und Abel zu überwinden, und finden wir andere Wege der Konfliktlösung, als sich gegenseitig immer weiter die Köpfe einzuschlagen? In Anbetracht der inzwischen entwickelten Massenvernichtungswaffen ist das eine Überlebensfrage für uns als Menschheit geworden. Es braucht ein richtiges Aufrütteln, einen Schrei: Nein, nicht mehr weiter so!
Die Krisen nehmen zu, inzwischen sind ganze Karusselle an Gewaltspiralen in Gang gesetzt, und es wird deutlich, dass es nicht durch das Drehen an ein paar wenigen Stellschrauben zu ändern ist. Einen kraftvollen Schlüssel zur Veränderung haben wir aber als Einzelne in der Hand und er kann davor bewahren, sich nur ohnmächtig zu fühlen. Wir können bei unserer eigenen Haltung beginnen und selbst "die Veränderung sein, die wir uns für die Welt wünschen", wie Mahatma Gandhi es einmal formuliert hat. Sich selbst als Leben zu begreifen, das leben will, aber eben inmitten von Leben, das auch leben will, wie Albert Schweitzer es auf den Punkt brachte. Das führt von alleine zu einer Bescheidenheit, ja vielleicht sogar Demut. So könnte der Fokus mehr darauf liegen, was ich selbst einbringen kann zu einem friedvolleren Miteinander. Diesen Aspekt zu stärken – darin sehe ich meine Aufgabe. Menschenrechte sind noch kein Wert an sich, wenn man sie nicht selbst auch lebt.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.