DOMRADIO.DE: Ist die Politik im Jahr 2018 katholischer geworden?
Dr. Andreas Püttmann (Publizist und Politikwissenschaftler): Da zögere ich, denn was an einer Politik katholisch ist, müsste man in sozialethischer Analyse an politischen Inhalten festmachen. Aus meiner Sicht gibt es sowieso keine katholische oder christliche, sondern nur eine christlich - und sekundär vielleicht auch katholisch - inspirierte Politik. Der Glaube schreibt selten ganz bestimmte politische Maßnahmen vor. Meistens sind vielschichtige Zweck-Mittel-Relationen und Abwägungen zu beachten. Entsprechend unterschiedlich optieren Katholiken ja auch in politischen Fragen. Wieviel christliche Inspiration Politik hat, hängt vor allem davon ab, wie es um die christliche Substanz in der Bevölkerung und um die Autorität der Kirche bestellt ist. Da ist 2018 kein gutes Jahr gewesen.
Aber es gibt natürlich Politik mit mehr oder weniger Katholiken in Führungsämtern. In der Union liegt die Repräsentanz mit acht katholischen Bundesministern gegenüber einer Protestantin, Frau von der Leyen, zuzüglich einem katholischen Fraktionschef und nun auch Generalsekretär so hoch wie lange nicht mehr. Vom Koalitionspartner SPD kommen Partei- und Fraktionschefin Nahles und Außenminister Maas hinzu. Annegret Kramp-Karrenbauer ist sogar typisch katholisch. In ihr hat FDP-Politiker Christian Lindner nicht umsonst die Zentrumstradition wiedererkannt. Sie verbindet konservative Positionen bei Lebensschutz, Ehe und Familie mit sozialpolitischer Sensibilität, beides in der großen Tradition der katholischen Soziallehre.
Zur Einschränkung all dessen muss man jedoch sagen, dass die Konfessionszugehörigkeit unbedeutender als die christliche Prägung ist. Soziologisch betrachtet stehen sich Christen unterschiedlicher Konfessionen mit starker Kirchenbindung in ihren Einstellungen näher als Kirchennahe und -ferne innerhalb derselben Konfession.
DOMRADIO.DE: Ein großer Diskussionspunkt des vergangenen Jahres war der Lebensschutz. Gefühlt das ganze Jahr diskutieren wir schon über den Paragraphen 219a, also das Werbeverbot für Abtreibungen in Deutschland. Auch hier hat sich die Regierung erst vergangene Woche auf einen Kompromiss geeinigt. Warum bringt das Thema so viel Konflikt in die Regierungskoalition?
Püttmann: Zwei Gründe sind hier maßgeblich: Einmal die emotionale Betroffenheit bei diesem Thema, wo es ja in der Tat um Leben und Tod und auch um ganz persönliche Lebensentwürfe geht. Davon sind nicht nur Frauen in Konfliktsituationen, sondern auch ihre Familien und ihr Umfeld betroffen. Insofern bringt das Thema eine hohe Emotionalität bei vielen Menschen mit sich.
Der zweite Grund liegt in der historischen Erinnerung an harte Kämpfe und gesellschaftliche Polarisierungen seit den 1970er Jahren. Denken wir etwa an die damaligen Selbstbezichtigungskampagne. Das heißt, hier wird ein kollektives Gedächtnis aktiviert, als ginge es noch um die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs an sich. Und sobald man auch nur einen Randaspekt davon berührt, kommt alles wieder hoch, und es entsteht ein Hype wie in diesem Jahr.
Für mich ist die Hysterie schwer nachzuvollziehen, denn unter der Gesetzesregelung mit einer Pflichtberatung kann ich nicht erkennen, dass es ein Informationsdefizit gibt. Die Sache ist aus meiner Sicht künstlich eskaliert worden, und da kann schon der Verdacht entstehen, das eigentliche Ziel sei der Durchmarsch für eine totale Abtreibungsfreiheit, bei der keine Abwägung mit dem Lebensrecht des Kindes mehr erfolgt. In der Debatte der jüngsten Juso-Bundesdelegierten-Versammlung ist es dementsprechend zu gruseligen Vorschlägen für einen Kahlschlag der staatlichen Schutzpflicht gekommen.
Das könnte die Kirche nie und nimmer akzeptieren. Schon die jetzige Regelung ist für sie schwer hinzunehmen. Im Übrigen wäre ein totaler Rückzug des Staates aus seiner Schutzpflicht auch verfassungswidrig.
DOMRADIO.DE: Dieses Jahr war auch die Bayern-Wahl ein großes Thema. Söder löst Seehofer als Ministerpräsident ab und bekommt mit seinem Beschluss, Kreuze in allen öffentlichen Ämtern des Landes aufzuhängen, breite Kritik ab, unter anderem auch aus Reihen der deutschen Kirche. Hat die Kirche unter Ministerpräsident Söder, unabhängig von diesem einzelnen Akt des Kreuzbeschlusses, einen größeren Stellenwert als unter seinem Vorgänger?
Püttmann: Das könnte sein, weil Herr Seehofer nie als besonders christlich profilierter Politiker in Erscheinung getreten ist und Söder immer wieder seine christliche Orientierung betont. Er war auch Mitglied in der Evangelischen Landessynode. Ob und wie das von seiner Politik und von seinem persönlichen Agieren in der Politik beglaubigt wird, mögen andere entscheiden. Die bayerischen Wähler haben der CSU jedenfalls zu verstehen gegeben, dass sie ihr jetzt weniger vertrauen, mit minus zehn Prozent.
Der Kreuzerlass, das muss man nun wirklich sagen, war ein Missbrauch des christlichen Zentralsymbols für eine antiislamische Identitätspolitik mit dem Ziel der Stimmenmaximierung in Konkurrenz zur AfD. Kardinal Marx hat das Nötige zu dieser Inszenierung gesagt. Ich denke, dass Herr Söder der christlichen Sache damit eher geschadet als genützt hat. Und das sage ich als ausdrücklicher Befürworter des Kreuzes im öffentlichen Raum, etwa in Schulen und Gerichten. Eben dort, wo es so kulturell gewachsen ist. Das ist allerdings etwas ganz anderes, als die künstliche Plakatierung von Kreuzen durch wahlkämpfende Politiker.
DOMRADIO.DE: Auch auf die AfD, die Sie gerade angesprochen haben, müssen wir noch eingehen. Die Partei ist seit 2018 in allen 16 Länderparlamenten und auch im Bund vertreten. Das ist eine Situation, an die sich die Parlamente erst einmal gewöhnen müssen. Wenn Sie auf das Jahr zurückschauen, geht die Politik richtig mit der AfD als Partei in den Parlamenten um?
Püttmann: Ich glaube grundsätzlich schon, denn die AfD ist keine Partei wie jede andere. Sie stellt die Legitimität unseres politischen Systems schon in ihrem Grundsatzprogramm radikal in Frage. Man muss sich klarmachen, dass Tabus nicht nur kognitiv, im Austausch von Argumenten geschützt werden, sondern auch sozialpsychologisch durch Ausgrenzungen, genauer gesagt durch soziale Signale der Billigung oder Missbilligung. Das braucht eine humane Gesellschaft.
Die AfD hat sich radikalisiert, sie hat sich gehäutet bei jedem Vorsitzendenwechsel und ist weiter nach rechts gerückt. Die wehrhafte Demokratie beginnt nicht erst dann, wenn extreme Strömungen kurz vor der Ergreifung der Macht stehen. Wehrhafte Demokratie beginnt schon in den Anfängen.
Für die Kirche gilt, dass ihr Ethos mit fremdenfeindlichen Tendenzen, mit der Überhöhung der eigenen Nation, mit Rassismus, Antisemitismus, der Verunglimpfung ganzer Religionsgemeinschaften, mit Hassreden und Verleumdung der repräsentativen Demokratie nicht kompatibel ist. Das hat Kardinal Marx so mit seinen Kriterien für die Wählbarkeit einer Partei im März 2017 klar umrissen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.