Der Vorgang scheint symptomatisch: Die russisch-orthodoxe Gemeinde in Amsterdam ist nach einem Konflikt um den Moskauer Patriarchen Kyrill I. vorerst geschlossen worden. Wegen Kyrills "voller Unterstützung" des Ukraine-Kriegs hatte die Gemeinde entschieden, seinen Namen in der Liturgie nicht mehr zu nennen, wie das "Nederlands Dagblad" berichtete.
Darauf fuhr überraschend der zuständige Erzbischof Elisey in einem Diplomatenwagen der russischen Botschaft vor und bestand auf Erwähnung des Patriarchen im Gottesdienst. Kyrill fiel zuletzt mit Aussagen auf, der Westen sei Schuld am Krieg; Appelle, er möge sich bei Wladimir Putin für den Frieden einsetzen, ließ er ungehört.
Viele beten nicht mehr für Kyrill I.
Der Auftritt von Erzbischof Elisey erschien den vier Priestern und dem Diakon der "Heiliger Nikolaus von Myra"-Gemeinde als Drohung: Es sei ihnen nicht mehr möglich, "innerhalb des Moskauer Patriarchats zu arbeiten und ihren Gläubigen ein geistig sicheres Umfeld zu bieten", erklärten sie. Man habe den Vertreter des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel gebeten, in seine Diözese aufgenommen zu werden.
Dass sich russisch-orthodoxe Gemeinden von ihrem Oberhaupt in Moskau abwenden, ist laut dem Ostkirchenexperten Thomas Bremer derzeit nicht nur in Europa, sondern auch in USA oder Kanada zu beobachten: "überall, wo es russisch-orthodoxe Gemeinden gibt".
Aus seinen Kontakten mit Priestern und Bischöfen wisse er, "dass sie Kyrill nicht mehr als ihren Patriarchen betrachten, weil sie sagen: Er lässt uns im Stich", sagte er am Sonntag im WDR-Interview.
Selbst die ukrainische russisch-orthodoxe Kirche habe bereits zu Kriegsbeginn ihr Oberhaupt in Moskau gebeten, sich beim Kreml-Chef für Frieden einzusetzen, so der Professor für Ostkirchenkunde und Friedensforschung am Ökumenischen Institut der Uni Münster. "Viele Bischöfe und Priester haben inzwischen aufgehört, in der Liturgie für Kyrill zu beten. Das heißt, die Kirche hat sich sehr klar und sehr eindeutig auf die ukrainische Seite gestellt."
Wie Kyrill I. den Krieg sieht
Der Patriarch selbst hat eine ganz andere Lesart, wie er am Sonntag erneut deutlich machte. Wieder bediente er das Narrativ von der Unterdrückung von Gläubigen seiner Kirche durch die ukrainische Regierung. Er bedauere auch, dass heute sogar einige "aus Furcht" in Gottesdiensten nicht mehr des Moskauer Patriarchen gedenken wollten, sagte er nach Angaben seiner Kirche in seiner Predigt in Moskau. Er verurteile niemanden, doch jemand, "der im Kleinen untreu ist", könne "auch im Großen untreu sein".
Er bete dafür, dass die Menschen in der Ukraine den orthodoxen Glauben bewahren, "dass sie sich nicht vor dem Druck derer fürchten, die ihnen vorschlagen, sich abzuspalten und so der Regierung gegenüber loyal zu sein", sagte der 75-Jährige.
Geteiltes Bild in der Ukraine
Hier werden diametrale Sichtweisen deutlich, die laut Bremer große Konsequenzen für die Zeit nach dem Krieg haben werden, "egal, wie der ausgeht". Fatal dürfte auch sein, dass viele Russen, die sich nur mittels russischer Medien informieren, kaum etwas von den Differenzen erfahren. Das Moskauer Patriarchat, das sonst auf seiner Website viele Nachrichten des ukrainischen Zweigs bringe, ignoriere sowohl Friedensappelle von Metropolit Onufri an Putin und Kyrill als auch die Tatsache, dass Onufri Russland als Aggressor verurteile. "Das wird alles totgeschwiegen", so Bremer.
Die moskautreue Kirche hat in der Ukraine die meisten Pfarreien. Allerdings bekannten sich in Umfragen deutlich mehr Bürger des Landes zur 2018 gegründeten eigenständigen (autokephalen) orthodoxen Kirche der Ukraine.
Keine Zukunft mehr mit Kyrill I.?
Auch wenn es vermutlich zu früh sei für Prognosen sei: Nach dem Krieg, so vermutet der Professor, werden wohl einige der ukrainischen Bischöfe eine Art "Reueerklärung" gegenüber Moskau abgeben, während die übrigen Bischöfe von der russisch-orthodoxen Kirche abgesetzt würden. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Autonomie, die der ukrainische Zweig der russisch-orthodoxen Kirche jetzt hat, dann aufgehoben wird und dass man sich sozusagen wieder ganz 'einordnet'", prognostiziert Bremer.
Für den Eichstätter Theologen Thomas Kremer steht fest: Die russisch-orthodoxe Kirche hat nur noch ohne Patriarch Kyrill I. eine Zukunft. Dessen Haltung zum Ukraine-Krieg markiere "einen moralischen Tiefpunkt in der Geschichte der Christenheit", schreibt Kremer auf dem Portal katholisch.de. Es sei für die russisch-orthodoxen Gemeinden an der Zeit, "sich entschieden und unerschrocken zu bekennen", so der Professor für die Theologie des Christlichen Ostens. Das täten sie "vielleicht noch nicht lautstark genug".