Kritik an Behörden nach Unwettern in Brasilien

Und weiter rutschen die Hänge

Vor einem Jahr kamen nach einem Unwetter in Brasilien mehr als 900 Menschen ums Leben. Bereits seit Ende Oktober 2011 wird der Südosten des Landes erneut von heftigen Regenfällen heimgesucht. Heute wie damals sagen Politiker Millionenhilfen zu und kündigen Maßnahmen zum Katastrophenschutz an. Doch den Worten folgen kaum Taten.

Autor/in:
Thomas Milz
 (DR)

In rund 170 Städten des Bundesstaates Minas Gerais wurde der Notstand ausgerufen; 15 Menschen starben, 3 werden weiter vermisst. Im Bundesstaat Rio de Janeiro starben bislang 24 Menschen. Hier hatten bereits genau vor einem Jahr Unwetter Erdrutsche ausgelöst, denen mindestens 918 Menschen zum Opfer fielen.



Die 18.000 Bewohner von Sapucaia, einem Städtchen in hügeliger Lage im Landesinnern des Bundesstaates Rio, erwachten in den frühen Morgenstunden des 9. Januar durch neue monsunartige Regenfälle. Gegen 3.15 Uhr begannen die vollgesogenen Berghänge rund um die Stadt nacheinander abzurutschen. Ein Nachbarsjunge eilte noch zu einem am Stadtrand gelegenen Haus, um die dortige Familie vor der Gefahr zu warnen.



In Panik verließen die Eheleute Lopes mit ihren zwei Töchtern und dem Schwager das Haus. Sie erinnerten sich wohl an die Bilder von vor einem Jahr, als Hunderte bei Erdrutschen in der Bergregion lebendig unter ihren Häusern begraben wurden. Vielleicht deshalb suchten sie Zuflucht in ihrem alten VW Käfer. Dann ging die Schlamm- und Geröllwelle auf die Hütten und Häuser des Stadtviertels Jamapara nieder. Acht Häuser begrub sie. Und den Käfer der Familie Lopes.



Lokalpolitiker bedienen an den Hilfsgeldern

Gut 80 Prozent aller Häuser in Sapucaia liegen in sogenannten Risikogebieten: an steilen Berghängen, die über keinen natürlichen Bewuchs mehr verfügen, der das Erdreich hält, wenn es mit Wasser vollgesogen ist. Nach der Katastrophe vor einem Jahr hatte die Landesregierung von Rio, teils unter Tränen, vor laufenden Kameras angekündigt, Risikogebiete wie dieses zu erfassen und dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung umgesiedelt wird. Passiert ist bislang nichts.



Auch die umgerechnet vier Millionen Euro, die die Stadt Sapucaia für den Katastrophenschutz bekommen sollte, trafen bisher nicht ein. 170 kritische Punkte wurden nach den Erdrutschen im Januar 2011 ausgemacht. An 8 dieser Punkte wurde mit Arbeiten begonnen; fertiggestellt ist keine der Baustellen. 75 Brücken wurden damals in der Schreckensnacht von den reißenden Strömen weggerissen. Nur eine einzige ist repariert.



Die versprochenen Hilfsgelder der Bundesregierung in Brasilia sind erst zur Hälfte freigegeben; Lokalpolitiker haben sich fleißig daran bedient. Der Bürgermeister von Teresopolis, wo 392 Bewohner im Schlamm starben, wurde wegen Unterschlagung abgesetzt. Auch der Bürgermeister von Nova Friburgo, wo 429 Menschen starben, stürzte über verschwundene Hilfsgelder; Brasilia stoppte die Auszahlung an die Stadt.



Immerhin Schnellkredite

Geändert hat sich für die Bewohner in den Risikogebieten wenig. Viele sagen, die einzige Neuheit sei eine chronische Schlaflosigkeit, immer dann, wenn es regnet. Sie wünschen sich ein Frühwarnsystem, das vor Erdrutschen warnt. In einigen Stadtvierteln der drei am heftigsten betroffenen Städte wurden tatsächlich Sirenen installiert. Dazu wurden Anwohner trainiert, mit Hilfe von aufgeschnittenen Colaflaschen den Regen aufzufangen, zu messen und die Stadtverwaltung zu benachrichtigen, wenn die Niederschlagsmenge pro Stunde einen gewissen Wert übersteigt. Ernsthafter Zivilschutz sieht anders aus.



Immerhin: Brasilia versprach nun neuerlich die Freigabe von 220 Millionen Euro Schnellkrediten für betroffene Bürger sowie weitere 33 Millionen Euro für die Landesregierungen dreier Bundesstaaten. Damit, so der für Katastrophenschutz zuständige Minister, soll alles wieder so hergestellt werden, wie es vor der Schlammkatastrophe war. Seine politische Zukunft freilich ist wegen der Umleitung von 90 Prozent der staatlichen Katastrophenschutzgelder in seinen Wahlkreis derzeit ernsthaft gefährdet.



Für die Familie Lopes kommt jedes Geld ohnehin zu spät. Ende vergangener Woche wurden die fünf Leichen unter großer Medienpräsenz zu Grabe getragen. Fünf Särge standen nebeneinander auf dem örtlichen Friedhof im nassen Gras. Die Kirche: nur 100 Meter von der Unglücksstelle entfernt. Helfer hatten den Käfer nach zwei Tagen Suche unter den Schlammmassen ausgemacht. Mit Schneidbrennern trennten sie die Karosserie auf, um die Leichen aus dem zerquetschten Wagen zu befreien. "Sie hätten im Haus bleiben sollen", klagte eine Angehörige unter Tränen. "Das Haus ist doch intakt geblieben."