Kruzifix-Urteil des Menschenrechtsgerichts neu auf dem Prüfstand

Italien pocht auf Ermessensspielraum

Italien will beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof erreichen, dass das umstrittene Kruzifix-Urteil vor einer Großen Kammer neu verhandelt wird. Ob diesem Antrag stattgegeben wird, entscheidet der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg nach Angaben aus Gerichtskreisen noch in dieser Woche. Wie es weitergeht, wird auch in Deutschland aufmerksam beobachtet.

Autor/in:
Christoph Lennert
Das Kreuz-Urteil: Wird das Christentum immer unsichtbarer? (DR)
Das Kreuz-Urteil: Wird das Christentum immer unsichtbarer? / ( DR )

Eine sieben Richter umfassende Kammer des Gerichts hatte Anfang November gegen Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern entschieden. Die Richter gaben einer Klägerin Recht, die sich in Italien vergeblich gegen die Kreuze gewandt hatte. Der Staatsrat, das oberste italienische Verwaltungsgericht, hatte 2006 entschieden, das Kreuz sei zu einem Symbol für die Werte Italiens geworden - dort wurde die Klage der Italienerin abgewiesen. Das Straßburger Urteil löste vor allem in Italien und bei der katholischen Kirche erhebliche Kritik aus.

Nun hofft Italiens Regierung, das Urteil könnte von einer Großen Kammer gekippt werden. Die von Rom dem Straßburger Gericht übermittelte Begründung für den Wunsch nach einer Neuverhandlung umfasst mehr als elf Seiten. Sie stützt sich vor allem auf zwei Argumentationslinien. Die eine besagt, dass der Staat zwar die Pflicht hat, Neutralität gegenüber den Religionen zu wahren. Das bedeute aber nicht absolute Unparteilichkeit. Denn durch sie werde in Wahrheit Partei ergriffen für die Seite der Nicht- oder Anti-Religiösen.

Identitätsstiftende Wirkung
Das zweite Argument geht davon aus, dass in Italien das Kreuz nicht nur ein religiöses Symbol ist, sondern auch identitätsstiftende Wirkung hat, ähnlich der Nationalflagge oder dem Foto des Staatspräsidenten. Es stehe für die Werte, auf denen die italienische Gesellschaft aufgebaut sei.

Daneben werfen die Juristen Italiens dem Menschenrechtsgerichtshof vor, unsauber gearbeitet zu haben. Die angewendeten Kriterien seien subjektiv und unpräzise. Die Richter hätten eine neue Interpretation der Religionsfreiheit geliefert, die schädliche Folgen für die Bürger zahlreicher Europarats-Mitgliedstaaten haben könnte.

Vor allem habe der Gerichtshof in seinem Urteil verkannt, dass den Staaten ein Ermessensspielraum zukomme, wie sie den Umgang mit den Religionen regelten. Zum Beleg führt Italien an, dass mehrere der 47 Europarats-Mitgliedstaaten - etwa Griechenland, Dänemark und Norwegen - Staatskirchen kennen. Auch in Großbritannien seien Staatsoberhaupt und Kirchenoberhaupt in einer Person vereint.

Auch Kathedralen und Kirchen abreißen
Und schließlich, so die italienische Argumentationskette, sei auch in keiner Weise bewiesen, dass ein "passives" Symbol wie ein Kreuz an der Wand einen Schüler in seiner Religionsfreiheit beeinflussen könne. Würde die Argumentation der Straßburger Richter auf die Spitze getrieben, so meinen die italienischen Juristen, müssten auch Kathedralen und Kirchen abgerissen werden, denn ihre massive Präsenz in den Städten könne die jungen Bürger ebenfalls emotional verstören. Wenn die Kreuze in den italienischen Schulen abgehängt würden, wäre die Störung des religiösen und sozialen Friedens größer als im umgekehrten Fall, lautet das Fazit Italiens.

Fünf Richter in Straßburg werden nun befinden, ob die von Italien in die Waagschale geworfenen Argumente schwer genug sind, um das Verfahren vor einer Großen Kammer neu aufzurollen. Dann würden 17 Richter mit dem Fall befasst. Gegen ihre Entscheidung ist kein Einspruch mehr möglich.

Auch Deutschland schaut nach Straßburg
Wie es in Straßburg weitergeht, wird auch in Deutschland aufmerksam beobachtet. Auch hier war das Urteil heftig kritisiert worden. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, sprach etwa vom "krassen Missverständnis", Religionsfreiheit als Freiheit von Religion zu verstehen.

Konkrete Folgen der Straßburger Entscheidung werden von Juristen nicht ausgeschlossen, auch wenn 1995 bereits das Bundesverfassungsgericht eine eigene Entscheidung zu Kruzifixen fällte. Der Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Wolfgang Rüfner, erwartet einen Dominoeffekt: Kläger gegen öffentliche Kreuze würden immer öfter bis nach Straßburg gehen, wenn sie zuvor in den nationalen Instanzen gescheitert seien.