domradio.de: Weltweit gibt es schätzungsweise 370 Millionen Indigene - von den Inuit am Nordpol bis hin zu den Aborigines in Australien. Und die Mehrheit erleidet ähnliche Probleme. Sie leben in Armut, sie sind marginalisiert und diskriminiert. Am Dienstag ist der Tag der Indigenen Völker, den hat die UN ausgerufen, um auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Was unterscheidet die Indigenen von der normalen Bevölkerung?
Thomas Wieland (Projektabteilungleiter bei Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der deutschen Katholiken): Das sind die Nachfahren der ursprünglichen Völker, die ein Gebiet bewohnt haben, bevor es kolonialisiert, von europäischen Mächten erobert wurde und bevor Staaten gegründet wurden. Sie verstehen sich heute so, dass sie die Nachfahren dieser Völker sind. Sie gibt es in Lateinamerika, aber auch auf den Philippinen, in Indien oder China.
domradio.de: Sie kennen Vertreter Indigener, wie die Yanomami in Brasilien. Viele haben ein Bild von spärlich bekleideten Menschen mit Federschmuck, die im Urwald leben und auf die Jagd gehen. Hat das etwas mit der Realität zu tun?
Wieland: Die sind so unterschiedlich, wie wir auch unterschiedlich sind. Ich bin Indigenen an Universitäten begegnet, es gibt viele, die in den großen Städten Lateinamerikas leben - oft auch am Rande. In Santiago de Chile zum Beispiel, oder auch in Buenos Aires und São Paulo. Es gibt Menschen, die tatsächlich noch in den angestammten Territorien leben. Auf der anderen Seite gibt es Völker, die den Kontakt zu unserer Zivilisation bewusst vermeiden. Es sind über Hundert, die vor allen Dingen im peruanischen und brasilianischen Amazonasgebiet leben und wirklich großen Wert drauf legen, ihre Lebensform - das ist dann durchaus mit Pfeil und Bogen - als Nomaden weiterleben zu können, weil sie andere Lebensformen als zerstörerisch empfinden. Man hat da die ganze Bandbreite.
domradio.de: Die UN hat den Internationalen Tag der indigenen Völker ins Leben gerufen, um auf die Marginalisierung und Benachteiligung aufmerksam zu machen. Ist das in Lateinamerika auch so?
Wieland: Da gibt es seit 1992 einige Erfolge. Es gibt Länder, die in ihren Verfassungen die Indigenen speziell berücksichtigt haben. Vor allem ein Thema ist wichtig: Landrechte. Es geht darum, dass den indigenen Völkern als Gemeinschaft Landrechte zugesprochen werden. Das widerspricht unserem individualistischen Verständnis von Landbesitz. Wir kennen es, dass man als Privatperson oder Organisation Land besitzt. Aber, dass die Völker Land besitzen, das ist ein wichtiger Punkt. Kolumbien hat es zum Beispiel in seiner Verfassung verankert, dass die indigenen Autoritäten auch vom Staat anerkannt sind und dass es zu gewissen Themen eine eigene Gerichtsbarkeit gibt. Die indigenen Institutionen sollen auch mit öffentlichen Mitteln und mit einem eigenen Budget ausgestattet sein, das sie nach eigenen Regeln für Bildung und arbeitsschaffende Maßnahmen für die Erschließung ihres Territoriums verwenden können. Aber es ist extrem fragil.
domradio.de: Warum?
Wieland: Es gibt weltweit ein riesiges Interesse, Rohstoffe auszubeuten. In den indigenen Gebieten finden sich oft diese begehrten Rohstoffe wie Erdöl, Gold, Erdgas und seltene Erden. Daher werden die Rechte oft mit Füßen getreten. Die Verantwortlichen bis in die staatlichen Spitzen hinein schrecken auch vor Mord nicht zurück.
domradio.de: Das heißt?
Wieland: Ein Beispiel dafür, das uns sehr mitgenommen hat, war die Ermordung der Aktivistin Berta Cáceres in Honduras. Sie hatte den Widerstand gegen ein Staudammprojekt organisiert - mit gutem Recht, fundiert auf den internationalen Regelungen und den Gesetzen.
Man muss sagen, es gibt Fortschritte. Aber die große Walze des Kapitalismus und der Ausbeutung von Bodenschätzen tritt diese Rechte trotzdem oft mit Füßen. Das ist der Grund, warum indigenes Leben noch immer bedroht sind.
domradio.de: Sie haben gesagt, es gibt Fortschritte, die Rechte zu bewahren. Welche Unterstützung gibt es denn von der Kirche vor Ort?
Wieland: Es gibt in fast allen Ländern in Lateinamerika, auch spezifisch bei der Bischofskonferenz, angesiedelte Initiativen, wie etwa den Indianer-Missionsrat. Der ist so anerkannt, dass er vor den Vereinten Nationen einen Beraterstatus zugestanden bekam, aufgrund seiner Möglichkeit, Indige zu vertreten. Wir unterstützen sie in der Artikulation. Wichtig ist, dass die Indigene selbst zu Wort kommen, ihre Rechte einklagen und ihre Identität waren.
Die katholische Kirche erhebt die Stimme, wenn die Menschenrechte und Rechte der Indigenen verletzt werden. Wir haben auch Stipendienfonds, damit die Menschen an einer Universität studieren können. Das ist ein ganz schöner Spagat, sowohl die eigene Identität zu wahren und sich gleichzeitig die Errungenschaften der Wissenschaften und des Rechts anzueignen, um auch in der Welt bestehen zu können und die eignen Belange und Interessen auch gestalten zu können. Stipendium, Bildung und auch Vermarktung von eigenen Produkten, das sind Initiativen, die die katholische Kirche und Adveniat unterstützen.
Das Interview führte Ina Rottscheidt