Die vierzigtägige Fastenzeit ging zu Ende: Nun begleitet die Kirche in der Woche vor Ostern den Herrn auf seinem letzten Weg nach Jerusalem - von Bethanien nach Jerusalem, auf die Höhe von Sion, nach Gethsemane, in den Hof des Hohepriesters und das Prätorium des Pilatus, auf die Schädelstätte von Golgotha und schließlich in den Garten des Josef von Arimathäa.
Nach byzantinischem Verständnis gedenkt die Liturgie nicht bloß einem Geschehen vor fast 2.000 Jahren. Es geht um eine die Welt übersteigende Ebene, auf der das dem menschlichen Verstand unergründliche Geheimnis des göttlichen Heilshandelns liegt, wo Zeit und Ewigkeit zusammenfließen.
Christus wird an diesen Tagen gepriesen als der "Bräutigam"
Christus wird an diesen Tagen gepriesen als der "Bräutigam", dessen Gemach geschmückt ist, der für alle den "unverwelklichen Kranz als Geschenk bereithält", zu dessen geistigem Gastmahl alle gerufen sind, die sich bereiten: "Siehe, der Bräutigam kommt in der Mitte der Nacht. Und selig der Knecht, den er wachend findet. Doch nichtswürdig ist, wen er sorglos antrifft. Sieh zu, meine Seele, dass du nicht dem Schlaf verfällst, damit du nicht dem Tod übergeben und vom Reich ausgeschlossen wirst" (Exaposteilarion, Morgengottesdienst an allen drei Tagen).
Pascha meint "Vorübergang" Christus vollzog den letzten Übergang vom Tod zum Leben, von dieser alten Welt in eine neue, in das Äon des Königreiches Gottes. Dies zeigen die Evangelien-Lesungen, die im Morgengottesdienst und in der täglichen Liturgie der Vorgeweihten Gaben vorgetragen werden: der fruchtlose Baum (Mt 21,18-43), die große endzeitliche Rede Jesu (Mt 24,3-35), die Verdammung der Pharisäer (Mt 12,15-13, 39) ebenso wie die Berichte von der salbenden Frau (Mt 24,6-16) und der letzten Mahnung Christi zur Umkehr (Joh 12,17-50), vor allem aber das Gleichnis von den zehn weisen und den zehn törichten Jungfrauen (Mt 24,36-26,1-4).
Auffällig sind zudem die Bezüge auf die Taufe als Begrabensein und Auferstehen jedes einzelnen Christen mit Christus, wie es Paulus in jener Perikope aufgezeigt, die stets im orthodoxen Taufritus gelesen wird (Röm 6,3b-12).
Direkte symbolische Nachverfolgung der Passion des Herrn
Mit dem Donnerstag der Leidenswoche verdichtet sich dieses Geschehen. Es wird zu einer direkten symbolischen Nachverfolgung der Passion des Herrn. Zwei Gedanken sind es, die diesen Tag prägen: das letzte Abendmahl und der Verrat des Judas: "Zu Deinem mystischen Abendmahl, Sohn Gottes, nimm mich heute als Tischgenossen an. Nie will ich Deinen Feinden das Geheimnis verraten, nie will ich Dir einen Kuss geben wie Judas, nein, wie der Schächer bekenne ich Dir: Gedenke meiner in Deinem Königtum, Herr!"
Höhepunkt ist dieses Abendmahl, in dem der Mensch durch die reale Gegenwart Christi zurückversetzt wird in den Urzustand der Einheit mit seinem Schöpfergott: "Als Sühne für der Sterblichen ganzes Geschlecht gabst Du Dich selbst Deinen Jüngern, o Guter, zum Tranke und fülltest den Becher der Wonne" (Morgengottesdienst des Großen Donnerstags, Kanon, 3. Ode, 2. Troparion). Aber diese Stunde der größten Liebe ist auch die des Verrates.
Auch Judas liebt, aber seine Liebe ist das "Silber": "Kein Unreiner, Gläubige, keiner nahe sich vollends wie Judas in List der Tafel des
Herrenmahles. Denn jener nahm den Bissen und vergriff sich an dem, der da ist das Brot! Nach seinem Kleide war er ein Jünger, in
Wirklichkeit aber stand er da als Mörder. ... Den er hasste, küsste er. Küssend verkaufte er den, der uns erkaufte vom Fluch, Gott, unserer Seelen Erretter!" (Stichiron zu Ps 40,9, Morgengottesdienst am Großen Donnerstag).
Wir werden jetzt Zeuge der Fußwaschung
Nachdem wir zu "Tischgenossen" geworden sind, werden wir jetzt Zeuge der Fußwaschung: Der Bischof in den Kathedralkirchen, der Abt im Kloster, in früheren Zeiten auch der Kaiser, wäscht gleichsam als Ikone Christi während der Verlesung des Evangeliums Joh 13,1-15 zwölf Priestern die Füße. Denn "heute nahm der, der unzugänglich in seiner Wesenheit, des Knechtes Werk auf sich: mit einem Linnen hat sich umgürtet, der den Himmel mit Wolken umhüllt. Wasser schüttet in ein Becken, der das Rote Meer einst geteilt!" (Stichira zur Fußwaschung).
Hier begegnen einem wiederholt variierten Motiv der Hymnen in der Leidenswoche: der Kontrastierung des unendlichen Heilshandeln Gottes an seinem Volk mit dessen Undankbarkeit: "Heute hängt am Kreuz, der die Erde auf Wassern schweben lässt. Mit einem Kranz aus Dornen wird umwunden der König der Engel. Zum Spott wird mit Purpur umhüllt, der den Himmel umhüllet mit Wolken. Schläge erhält, der im Jordan den Adam befreite. Mit Nägeln ward eingeheftet der Kirche Bräutigam. Mit einer Lanze ward durchbohrt der Sohn der Jungfrau." Aber dies ist auch der rettende Tag der Erlösung; so endet der Gesang zuversichtlich: "Wir verehren, Christus, Deine Leiden. Zeige uns auch Deine herrliche Auferstehung!" (Karfreitag, 1. Troparion des 15. Antiphonon)
"Akolouthie der heilbringenden Leiden unseres Herrn"
Erster Hauptgottesdienst des Großen Freitags ist sein Morgengottesdienst, der heute aus pastoralen Gründen zumeist schon am Donnerstagabend gefeiert wird - die "Akolouthie der heilbringenden Leiden unseres Herrn Jesu Christus" mit der Verlesung von zwölf Evangelienabschnitten. Auch heutzutage ist dies ein Stationsgottesdienst vor einem in der Kirche stehenden Kreuz.
Die ersten fünf Evangelien (Joh 13,31-18, Joh 18,1-28; Mt 26,57-75; Joh 18,28-19,16; Mt 17,3-32) werden von je drei Antiphonen begleitet. Diese betonen immer wieder die lebendige Gegenwart der Ereignisse und die Unfassbarkeit des Geschehens: "Heute sagt der Schöpfer des Himmels und der Erde zu seinen Jüngern: die Stunde ist nah! Judas, mein Verräter naht. Keiner möge an mir zweifeln, wenn er mich am Kreuz sieht zwischen zwei Schächern. Denn ich leide als Mensch und errette als Freund der Menschen, die an mich glauben!" (3. Troparion, 4. Antiphonon).
"Alle Schöpfung ward verwandelt vor Furcht"
Zwei weitere Evangelien Mk 15,16-32 und Mt 27,33-57 (ersteres wurde im Jerusalem des 10. Jahrhunderts im Prätorium, das zweite zwischen Prätorium und Golgotha gelesen) folgen. Sie sind verbunden mit dem Gesang der Seligpreisungen (Mt 5,3-12). Die Hymnen betonen dabei immer wieder das Unbegreifliche des Geschehens: "Alle Schöpfung ward verwandelt vor Furcht, als sie Dich, Christus, am Kreuze hängen sah. Die Sonne verfinstert ward, und erschüttert der Erde Grundfeste. Das All litt mit dem, der das All erschaffen!" (Stichiron zu Ps 21,19 b). Deutlich erkennbar ist die Jerusalemer Ordnung der ersten Jahrhunderte wie Hymnen, die durch ihre Nähe zur lateinischen Improperiendichtung der "Heilandsklage" gekennzeichnet sind, wobei beide wohl auf gemeinsame syrische Vorlagen zurückgehen dürften.
Den Großen Freitag schließt die Grablegungsvesper ab, in der noch einmal die Leiden des Herrn von der Übergabe an Pilatus bis zur Grablegung verlebendigen. Sodann wird der Epitaphios (slawisch: Plascanica), eine in der Regel reich bestickte Ikone der Grablegung Christi, die den toten Herrn selbst symbolisiert, zum "Heiligen Grab" mitten in der Kirche getragen. Während dessen singt der Chor: "Der edle Josef nahm deinen heiligen Leichnam vom Holze und hüllte ihn in reines Linnen und in würzige Kräuter, besorgte ihn und setzte in einem neuen Grabe ihn bei!" (Apolytikion zur Grablegungsprozession).
Das im Morgengottesdienst an jedem Samstag übliche vollständige Psalmgebet 118 (119) wird am Großen Samstag bei jedem seiner 176 Verse mit einem eigenen Preisgesang begleitet, so beispielsweise: "Du, Christus, das Leben, wurdest dem Grab übergeben. Erfüllt wurden die Heere der Engel mit Beben, die Deine Herablassung rühmend erheben!"
Immer dominanter wird die Vorahnung des Kommenden
Immer dominanter wird die Vorahnung des Kommenden: "Heute umschließt den ein Grab, der mit seiner Hand die Schöpfung umschließt! Ein Stein bedeckt den, der mit Herrlichkeit bedeckt die Himmel. Es schlummert das Leben, und der Hades erbebt, und Adam wird von den Fesseln befreit. Ehre sei deinem Heilsplan, durch den du alles vollendet hast, als Gott uns die ewige Sabbatruhe geschenkt hast durch deine allheilige Auferstehung von den Toten!" (Troparien der ersten Stasis der Enkomia)
Einer nochmaligen Prozession mit dem Epithaphios am Ende des Morgengottesdienstes folgen Schriftlesungen: die Vision des Ezechiel (Ez 37,1-14) von den Knochen, die wieder lebendig werden, 1 Kor 5,6-8 mit Gal 3,13f. und Mk 27,62-66, welche schon deutlich zum Osterereignis überleiten. Im Troparion heißt es dazu tut: «Der du die Enden der Erde zusammenhältst, du ließest dich einengen im Grab, Christus, um die Menschen vor dem Sturz in den Hades zu retten, um uns, Unsterblichkeit schenkend, das Leben zu geben als unsterblicher Gott!"
Schon die spätantike Autorin Egeria (Aetheria) aus Nordspanien oder Gallien, die als Pilgerin im späten 4. Jahrhundert das Heilige Land bereiste, berichtet von einer zweifachen österlichen Vigilfeier Jerusalems (Peregrinatio 24) am Großen Samstag: in der Vigil und am frühen Morgen - beide existieren in der Orthodoxen Kirche bis heute.
Die erste dieser Feiern ist die mit der Vesper verbundene Göttliche Liturgie, welche durch 15 Prophetenlesungen gekennzeichnet ist. Sie ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie im orthodoxen Bibelverständnis und gottesdienstlichen Kontext Deutung und symbolische Auslegung alttestamentlicher Stellen erfolgen, die als Vorankündigung oder Prototypen der Auferstehung gesehen werden.
Die 15 Lesungen sind: Gen 1,1-13 (Erschaffung der Welt); Jes 9,1-16 (neues Zion); Ex 12,1-11 (Passamahl und Auszug); Jona (vollständig); Jos 5,10-15 mit dem Responsorium Ex 15,1-19 ("Denn herrlich hat er sich verherrlicht"); Weish 3,8-15 (der Herr als Rächer); 1 Kön 17,8-23 (Totenerweckung des Elias); Jes 21,10-22,5 (neues Zion); Gen 22,1-18 (Ahrahamsverheißung); Jes 41,1-9 (Messias und neues Gottesvolk); 2 Kön 4,8-37 (Erweckung durch Elischa); Jes 23,11-24,4 (Offenbarung Gottes); Jer 31,31-34 (Neuer Bund); Dan 31,1-56 (Jünglinge im Feuerofen) mit Responsorium der Verse 57-88.
Weiterer Akzent dieses Gottesdienstes weist hin auf die Taufe
Ein weiterer Akzent dieses Gottesdienstes, der heute wegen der eucharistischen Nüchternheit oft schon am Morgen des Großen Samstags statt am Abend bzw. in der Nacht gefeiert wird, weist hin auf die Taufe. So das Lied "Die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen" (Gal 3,27) anstelle des üblichen Trisagion) und die Apostellesung Röm 6,6ff. Dies war der Augenblick, da in der Alten Kirche den Katechumenen die Taufe gespendet wurde. Zum Evangelium kleiden sich die Liturgen daher schon wieder in helle Gewänder, die sie zu Beginn der Großen Fastenzeit abgelegt hatten.
Das Große Einzugslied fasst noch einmal zusammen: "Schweigen soll alles sterbliche Fleisch und in Furcht und Zittern dastehen, und nichts Irdisches soll es bei sich erwägen. Denn der König der Könige und der Herr der Herrscher nahet, sich töten zu lassen und als Speise sich hinzugeben den Gläubigen."
Die zweite Auferstehungsfeier - heutzutage üblicherweise um Mitternacht und oft mehr beachtet als die erste - beginnt mit einer
dreimaligen Prozession um die Kirche unter dem Gesang "Deine Auferstehung, Christus, Erlöser, besingen die Engel in den Himmeln, würdige auch uns auf Erden reinen Herzens Dich zu loben». Sie endet vor der verschlossenen Kirchentür, die sich dann auftut unter dem Gesang des Ostertroparions vor dem, der - wie es auch die Festikone zeigt - die Pforten der Unterwelt niedergetreten und den Satan, den Urheber allen Todes, unterworfen hat: "Christus erstand von den Toten, hat den Tod durch den Tod besiegt, und den in den Gräbern Seienden das Leben geschenkt!"
Kernstück des folgenden Morgengottesdienstes ist der Osterkanon
Kernstück des folgenden Morgengottesdienstes ist der Osterkanon des Heiligen Johannes von Damaskus (um 750). Ein solcher Neun-Oden-Kanon als Form liturgischer Dichtung, wie er sich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends in mehreren Schritten ausformte, besteht aus Strophen, die ursprünglich auf biblische Hymnen gedichtet wurden: auf das Siegeslied des Moses (Ex 15,1-19), das Mahnlied des Moses (Deut 32,1-43), das Loblied der Anna (1 Sam 2,1-10), das Loblied des Habakuk (Hab 3,2-19), ein Preislied auf die Gerechtigkeit Gottes (Jes 26,9-20), das Danklied des Jonas (Jona 2,3-10), das Gebet des Asarja im Feuerofen (Dan 3,26-45), den Lobgesang der drei Jünglinge (Dan 3,52-88) und den der Gottesmutter (Magnificat) oder den Lobgesang des Zacharias (Lk 1,46-55; 1,68-79). Seit dem 7. Jahrhundert gewannen unter syrischem Einfluss aber diese poetischen Zwischentexte immer mehr an Bedeutung und verdrängten sogar in der Praxis die biblischen Oden.
Das gilt auch für den österlichen Kanon des Johannes von Damaskus (um 650-754): "Auferstehungstag! Lasset uns Licht werden, ihr Völker! Das Pascha, des Herrn Pascha! Denn vom Tode zum Leben und von der Erde zum Himmel hat Christus, unser Gott, uns hindurchgeführt, uns, die wir das Siegeslied singen". Das Fest der Auferstehung des Herrn hat für den Damaszener wie allgemein die Väter universale heilsgeschichtliche Bedeutung.
Osterpredigt in orthodoxen Ostermorgengottesdiensten gelesen
Die Apostellesung der eucharistischen Liturgie zeigt die weitere Entwicklung der Kirche (Apg 1,1-8), und das Evangelium (Joh 1,1-17) bekräftigt, auf wen sich alles gründet, weshalb es auch - zumindest nach russischem Brauch - in so vielen verschiedenen Sprachen wie möglich gelesen wird - als weltweite Bekundung dessen, was der Johannes Chrysostomos (349-407) in seiner Osterpredigt herausgestellt hat, die in allen orthodoxen Ostermorgengottesdiensten weltweit gelesen wird:
"Wo ist, Tod, dein Stachel - wo, Hades, dein Sieg? Auferstanden ist Christus - und du bist gestürzt. Auferstanden ist Christus - und
gefallen sind die Dämonen. Auferstanden ist Christus - und es freuen sich die Engel. Auferstanden ist Christus - und es herrscht das Leben. Auferstanden ist Christus - und es ist kein Toter mehr im Grabe, denn Christus ist auferstanden von den Toten und ist die Erstlingsgabe der Entschlafenen geworden. Ihm sei die Ehre und die Macht in alle Ewigkeit. Amen."