domradio.de: Der 9. Oktober 1989 war auch für Sie ein aufwühlender Tag. Sie haben damit gerechnet, dass es Gewalt geben könnte.
Altpropst Hanisch: In den Tagen zuvor hatte sich schon Gewalt ereignet. Im Hintergrund stand zudem die sogenannte chinesische Lösung, von der wir annahmen, dass sie auch in der DDR unter Umständen praktiziert würde.
domradio.de: Das hätte geheißen, dass mit Panzern auf die Demonstranten losgegangen wäre?
Hanisch: Ja. Am 9. Oktober war ja die Innenstadt von Leipzig voller gepanzerter Fahrzeuge und Wasserwerfer. Es sah so aus, als ob es wirklich zur Gewaltanwendung kommen könnte.
domradio.de: Sie waren also sehr besorgt, bevor es mit den Friedensgebeten und den anschließenden Demos losging. Dann haben Sie zusammen mit Kollegen einen Appell zur Gewaltlosigkeit gestartet.
Hanisch: Ich dachte damals, dass wir als katholische Kirche auch etwas sagen müssen. Ich habe dann zu einer außerordentlichen Dekanatskonferenz eingeladen. Nach langer Diskussion haben wir folgende Resolution verabschiedet: "Unsere Gesellschaft befindet sich in einer Krise. Davon sind auch unsere Gemeinden betroffen. Vor allem besteht ein tiefgreifender Vertrauensschwund zwischen Regierten und Regierenden. Wir erwarten, dass dieses Vertrauen ermöglicht wird. Ein erster Schritt ist Wahrhaftigkeit in den Medien der DDR. Wir unterstützen alle gewaltlosen Bemühungen, die einen gesamtgesellschaftlichen Dialog fördern."
domradio.de: Das war Ihr Appell damals. Aber Sie waren nicht der Einzige: Es gab auch den Appell der Sechs. Das Besondere dabei war, dass sich auch SED-Leute angeschlossen hatten.
Hanisch: Das war das Neue. Neben dem Gewandhauskapellmeister Kurt Masur und einem evangelischen Theologen und dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange hatten auch drei Bezirkssekretäre der SED den Aufruf unterschrieben. Er wurde sowohl in den Friedensgebeten in den Leipziger Kirchen verlesen als auch über den Stadtfunk verbreitet.
domradio.de: Von wo aus haben Sie die eigentliche Demo verfolgt?
Hanisch: Ich selbst war zunächst in der Thomaskirche und habe an dem Friedensgebet teilgenommen. Da wir immer noch Angst hatten, dass es zu Schießereien und Gewalt kommen könnte, habe ich mich am Rand aufgehalten. Wir wollten vermittelnd eingreifen, wenn es notwendig geworden wäre.
domradio.de: Zum Glück war das nicht notwendig. Und dass es so friedlich geblieben ist, haben die Leute später auch das Wunder von Leipzig genannt. Ihnen ist natürlich wie vielen anderen ein Stein vom Herzen gefallen. Wie erklären Sie sich dieses Wunder?
Hanisch: Wunder kann man im Letzten natürlich nicht erklären. Es gibt zwei Seiten: Dass diejenigen, die die Gewalt inne hatten und rigoros angewandt hatten, an diesem Tag friedlich blieben. Zweitens: Dass diejenigen, die demonstrierten, auch Ruhe bewahrten.
domradio.de: Ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen. In diesen Tagen wurde viel erinnert und darüber gesprochen. Sie haben gesagt, dass Sie sich über die Art des Erinnerns wundern. Warum?
Hanisch: Ich wundere mich, weil viele, die gar nicht dabei waren, heute erklären wollen, wie es damals gewesen ist. Bernd-Lutz Lange schrieb jüngst: „Ich hätte nicht geglaubt, dass Geschichte mitunter verfälscht wird, wenn die Augenzeugen noch leben.“ Ich werde Herrn Lange schreiben und ihm sagen, dass er mir aus der Seele gesprochen hat.
domradio.de: Sie selbst waren zu dem Festakt in Leipzig nicht eingeladen. War das für Sie enttäuschend?
Hanisch: Wenn man 85 Jahre alt ist, dann lernt man damit umzugehen. Dazu gehört auch, dass man am Rande steht.
domradio.de: Aus Ihrer Sicht heute: Was würden Sie als Zeitzeuge den Menschen mit auf den Weg geben?
Hanisch: Ich würde empfehlen, diese Gewaltlosigkeit, dies sich ja nicht nur in Taten sondern manchmal auch in Worten äußert, zu beherzigen. Man darf nicht nur von der Freiheit reden. Sie ist sicherlich ganz wichtig, aber Freiheit ohne Verantwortung wird zur Willkür.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter.